In einer neuen Dauerausstellung beleuchtet das Rosgartenmuseum Konstanz die Zeit des Nationalsozialismus in der Grenzstadt – und in der Schweizer Nachbarschaft. Parallel dazu wirft sein Direktor in einem Buch einen aufschlussreichen Blick in die eigene Familiengeschichte. Die dabei aufgeworfenen Fragen sind angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von brennender Aktualität.
Selbst wenn man sich vor allzu weit reichenden Parallelen hüten sollte, weil sich Geschichte nie wiederholt und weil die Brutalität des Nationalsozialismus denn doch einzigartig ist bis heute, so kann man doch nicht durch diese Ausstellung im Rosgartenmuseum Konstanz gehen, ohne da und dort an Putins Russland und an seinen Krieg gegen die Ukraine erinnert zu werden. Da sind die Kinder und Jugendlichen, die früh in eine militärisch geprägte Welt eingeführt werden, deren wichtigstes Element die Ausgrenzung der Andersdenkenden und der Juden ist. Da sind die Erwachsenen, auf die vom ersten Tag an eine überwältigende Propaganda niederprasselt, die sie schon auf den kommenden Krieg vorbereitet. Da ist ein immer bedrohlicher werdender Repressionsapparat, in dessen Mühlen man ganz leicht geraten kann. Und da sind die vielen Vorteile, die eine Anpassung an die neuen Herrscher mit sich bringt. Wer will, kann durch diese Anpassung auch eine gehörige Portion Macht für sich erringen, kann sich rächen für erlittene Schmach, oder auch einfach nur billig Karriere machen.
Der Zeitzeuge spricht vom «kurzen Prozess»
Viele wollten das im friedlichen Konstanz, die neu gestaltete Dauerausstellung «Konstanz im Nationalsozialismus» zeigt es auf eindrückliche Weise. Und sie wirft auch einen Blick hinüber in die Schweiz, die sich abschottet gegen den Strom verfolgter Oppositioneller, Gewerkschafter und vor allem Juden. Das Echo ist gross, dies- und jenseits der Grenze. «Viele Schulklassen melden sich zu Besuchen und Workshops, auch aus der Schweiz», sagt Tobias Engelsing, promovierter Historiker und Direktor der Konstanzer Museen, der die Dauerausstellung gestaltet und dazu auch zusammen mit Teresa Renn einen Film gedreht hat. Auch einen Zeitzeugen hat er für diesen Film noch interviewen können, der in der Ausstellung gezeigt wird – einen 102-Jährigen, der zuerst versichert, wie schrecklich der Krieg an der Ostfront gewesen sei, und dann auf Nachfrage zugibt, man habe dort mit den Partisanen «kurzen Prozess gemacht».
Was sie selber mitzuverantworten hatte, das ist von der Kriegsgeneration selber und von ihren Kindern gern unterschlagen worden. Jetzt, in der Enkelgeneration, existieren solche Rücksichten nicht mehr. «Wir haben auf einen Aufruf hin ungewöhnlich viele Objekte bekommen», sagt Engelsing. «Zum Beispiel eine Wehrmachtsuniform, die fein säuberlich auf dem Estrich des Grossvaters lagerte. Oder auch Fotoalben, die vom munteren Leben in der Hitlerjugend zeugen und in denen sich praktisch die ganze Nachkriegs-Elite von Konstanz wiederfindet –, die darüber nie etwas erzählt hat.»
Die grosse Welt im Kleinen zeigen
Der Film schreitet die Orte der Diktatur in der Stadt ab, schildert den Aufstieg des Nationalsozialismus, die Gleichschaltung der Stadt und die Militarisierung der Gesellschaft, die Verfolgung von Oppositionellen und Juden, die Zerstörung der Synagoge, und, auf der andern Seite, Widerstand und Emigration. «Wir wollen die grosse Welt im Kleinen zeigen», verdeutlicht Tobias Engelsing die Idee der Ausstellung. «Das heisst, wir haben uns auf einzelne Menschen konzentriert.» Aus der Vielfalt der Stimmen und Schicksale ersteht die Geschichte einer Stadt, in der sich viele 1933 den neuen Machthabern willig ergeben, wenige aber doch Widerstand leisten.
Wie der an der Grenze zu Kreuzlingen gefasste Schreinergeselle Georg Elser, der im November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller eine Bombe platziert, der Adolf Hitler nur sehr knapp entkommt. Oder wie der Kreuzlinger Gewerkschafter Ernst Bärtschi, der sich als Fluchthelfer betätigt, 1938 in eine Falle der Gestapo gerät und bis 1945 in einem deutschen Gefängnis sitzt, ohne dass sich die Schweizer Regierung um ihn kümmert. An Menschen zu erinnern, «die unter den Bedingungen der Diktatur Wege gefunden haben, mutig und anständig zu sein», das ist nach Tobias Engelsings Worten das wichtigste, und vor allem an eine jüngere Generation gerichtete Anliegen der Ausstellung.
Der Vater als sprechendes Beispiel
Anständig bleiben in der Diktatur: Vor diese Herausforderung sieht sich 1933, als Hitler an die Macht kommt, auch der 28-jährige Herbert Engelsing gestellt, Tobias Engelsings Vater. Gekannt hat er diesen Vater nicht wirklich: Der Filmproduzent und spätere Anwalt Herbert Engelsing stirbt 1962, zwei Jahre nach der Geburt seines Nachzüglers aus zweiter Ehe. Zehn Jahre lang hat Tobias Engelsing nun das Leben seines Vaters erforscht. In seinem parallel zur Ausstellung erschienenen Buch «Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet. Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand» spürt er dem Leben eines Einzelnen und seiner Familie im gefährlichen Getriebe einer brutalen Diktatur nach. Er tut es mit grosser menschlicher Anteilnahme, verzichtet aber auf jede Schönfärberei.
Im Gegenteil, immer wieder fragt der Sohn sich: Warum hat mein Vater das getan, warum hat er mitgemacht? Die Antwort: Herbert Engelsing will Karriere machen, sich aber zugleich einem Regime entziehen, das er aus tiefster Seele ablehnt. So scheidet der junge, aufstrebende Jurist aus dem Staatsdienst aus, als er im Sinne der neuen Herren Recht sprechen soll, und wendet sich dem Filmgeschäft zu, das seinen juristischen Rat braucht und in dem er dann zum Produktionsleiter aufsteigt. Konzessionen machen muss er trotzdem: Er tritt der NSDAP bei (und 1940 wieder aus), und er muss erkennen, dass der Film für das Regime immer wichtiger wird. Die Menschen müssen bei Laune gehalten werden.
Komödien drehen – und sich gegen Hitler verschwören
So dreht Herbert Engelsing für die Nazis – grossenteils gänzlich unpolitische -–Komödien und betraut mit den Drehbüchern gerne Leute, die in innerer Opposition zum Regime stehen. Dickköpfig setzt er 1937 die Heirat mit der 13 Jahre jüngeren Inge Kohler durch, einer Tochter aus zur Hälfte jüdischer Familie. Die Sondergenehmigung dazu muss Hitler selbst erteilen.
Schon hier begibt Herbert Engelsing sich auf ausgesprochen gefährliches Terrain. Noch weit gefährlicher wird für ihn, was sich von 1938 an in seinem Haus an jenen lockeren Partys abspielt, zu denen die Engelsings nur Gegner des Regimes einladen. Herbert und Inge Engelsing lernen Harro und Libertas Schulze-Boysen kennen, ein junges, glamouröses Paar der Berliner Gesellschaft, das im Zentrum eines Widerstandskreises steht, dem die Nazis später den Namen «Rote Kapelle» geben.
Harro will als Angestellter des Luftfahrtministeriums mit Gleichgesinnten wie ein Trojanisches Pferd den NS-Apparat unterwandern, Informationen sammeln und mit Flugblättern die Öffentlichkeit unterrichten, um so einen Umsturz herbeizuführen. Bei Engelsings lernen sich diese Gleichgesinnten kennen. Doch vieles trennt den Gastgeber auch von Harro Schulze-Boysen. In dessen Glaube an ein freiheitlich-sozialistisches System und dessen Nähe zur Sowjetunion, die Schulze-Boysen 1941 vor dem deutschen Überfall warnt, kann sich der bürgerlich-liberale Citoyen Engelsing nicht mehr wiedererkennen. Sein Vater, zieht Tobias Engelsing Bilanz, sei auch in den späteren Jahren seines Lebens kein Idealist gewesen. «Man könnte ihn als einen menschenfreundlichen Pragmatiker mit gutem Instinkt und ausgeprägtem Geschäftssinn bezeichnen. Jede Weltanschauung aber, die den besseren Menschen versprach, machte ihn höchst misstrauisch.»
Doch gewusst hat er von der Verschwörung, und als 1942 die «Rote Kapelle» auffliegt, ihre Mitglieder verhaftet, gefoltert und hingerichtet werden, geht auch im Hause Engelsing die grosse Angst um. Doch niemand verrät sie.
Die «Rote Kapelle» als Belastung
Noch einmal, nach dem gescheiterten Attentat gegen Hitler vom 20. Juli 1944, geht Herbert Engelsing ein enormes Risiko ein. Er verteidigt einen Offizier, den eine mit Propagandaminister Goebbels verbandelte Schauspielerin denunziert hat, und erreicht einen Freispruch. Goebbels will den Prozess wiederholen lassen, was aber das Kriegsende verhindert. Da hat Herbert Engelsing sich schon aus dem Staub gemacht, indem er möglichst weit weg – in Konstanz – Dreharbeiten organisiert hat.
Gern wäre er Inge und den Kindern in die USA zu den Schwiegereltern gefolgt, um in Hollywood noch einmal im Filmgeschäft mitzumischen. Doch gerade seine Beziehung zur «Roten Kapelle» macht ihm jetzt einen dicken Strich durch die Rechnung: In Deutschland sind viele Nazis schon wieder in einflussreiche Positionen gelangt, und der Kalte Krieg wirft seine Schatten auf Herbert Engelsings Plan. Sowohl die Schweizer Bundespolizei wie der amerikanische Geheimdienst akzeptieren ihn nur gerade als Touristen. So bleibt er, was er allerdings auch mit grosser Lust ist: ein Konstanzer Anwalt mit ausgesprochen gut gehender Kanzlei, der gerne Menschen aus den Randbezirken der Gesellschaft verteidigt.
Konstanz im Nationalsozialismus, Rosgartenmuseum Konstanz
Tobias Engelsing: Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet. Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand. Propyläen-Verlag, 2022