Saudi-Arabien war für Teheran jahrzehntelang einer der Hauptfeinde. Jetzt vollzieht der Iran – vermittelt von China – eine überraschende, radikale Kehrtwende, die viele Kommentatoren als «historisch» bezeichnen.
Seine Sprache sei wie Beton, seine Augen furchterregend, aus ihm spreche der tiefe Staat. So beschrieb ihn einmal der «Spiegel». Gemeint war Hossein Shariatmadari, der Chefredaktor der Teheraner Tageszeitung «Keyhan».
Unerträgliche Pflichtlektüre
Sein Blatt ist Ali Khameneis Hauspostille, und Shariatmadari ist sein Sprachrohr. Er sagt oft das offen, was Khamenei manchmal verklausuliert und verschlüsselt formulieren muss. Seit Khamenei Revolutionsführer ist, ist Shariatmadari Chefredaktor der Zeitung. Der 75-Jährige war beim Geheimdienst tätig. Ehemalige politische Gefangene haben ihn als einen zynischen und grausamen Vernehmer in Erinnerung.
Seine Wortwahl und Polemiken sind zwar kaum erträglich, doch seine Kommentare muss man täglich lesen, um zu wissen, was der harte Kern der Macht dieser «Republik» gerade tut oder vorhat.
Und man stellt oft fest, zu welcher unglaublichen Verwandlung und Mutation die Mächtigen in Teheran fähig sind. Das aktuelle und vielleicht beste Beispiel liefert seit vergangenem Freitag Saudi-Arabien.
Hitler und Milchkuh
«Es kann sein, dass ich irgendwann Saddam Hussein verzeihe, doch die Saudis werde ich für immer verdammen.» Dies sagte einmal Republikgründer Ajatollah Chomeini auf dem Höhepunkt des iranisch-irakischen Krieges (1980–1988). Und diese harte Haltung bestimmte vier Dekaden lang weitgehend die gespannte Beziehung zwischen Teheran und Riad, von vorübergehenden Entspannungen abgesehen.
«Verglichen mit Ali Khamenei war Adolf Hitler ein guter Mann», sagte der saudische Kronprinz Mohammad Ben Salman (MbS) im April 2018 in einem Interview mit dem US-Magazin Politico. «Die Herrschenden in Riad sind dumme Milchkühe der Amerikaner», erwiderte Ali Khamenei zwei Tage später. Teheraner Propagandisten bezeichneten die Saudis als «US-Lakaien» und «Hunde der Zionisten». Doch das sind Geschichten, die seit Freitag keinen Bestand mehr haben.
Eine beispiellose Verwandlung
Diese politische Metamorphose mögen viele als «die Fähigkeit zur Realpolitik» nennen. Doch sie sagt viel aus über die wahre Schwäche der Islamischen Republik und über die Prioritäten des saudischen, machtagilen Kronprinzen Bin Salman. Ebenso gibt das am vergangenen Freitag in Peking unterzeichnete und von iranischen und saudischen Geheimdienstlern mitausgearbeitete Dokument Einblick in die geduldige, unbeirrbare und langfristige chinesische Strategie im Nahen Osten.
Wang Yi ist einer der wichtigen Architekten der chinesischen Aussenpolitik. Er war bei der Unterzeichnung des Dokuments am vergangenen Freitag dabei. In der Vereinbarung verpflichten sich die Mächtigen in Riad und Teheran, sich nicht mehr in die Angelegenheiten der anderen einzumischen.
Gute Nachricht für das geplagte Jemen
Das ist zuerst einmal eine sehr gute Nachricht für die Menschen in Jemen. Einen Tag später haben Vertreter der Huthi-Rebellen und Abgesandte der von den Saudis unterstützten jemenitischen Regierung in Genf Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch aufgenommen. Hans Grundberg, der UN-Sondergesandte für Jemen begab sich am Tag danach nach Teheran, wo der iranische Aussenminister ihm versprach, alles für Frieden in Jemen tun zu wollen.
Der Krieg in Jemen hat sich für Ben Salman zu einem Fiasko, einem Abenteuersumpf verwandelt, aus dem er so schnell wie möglich herauskommen will. US-Präsident Jo Biden hatte einst die Beendigung dieses Krieges zu einem Ziel seiner Präsidentschaft erklärt. Das schaffte er nicht. Die Chinesen könnten es jetzt schaffen, obwohl noch viele Wenn und Aber zu überwinden sind.
Über Jemen hinaus?
Der irakische Ex-Ministerpräsident Mustafa Al-Kadhimi hatte in Bagdad versucht zu vermitteln und vergeblich fünf Sitzungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien moderiert. Er kennt die Forderungen der beiden Seiten sehr gut. In der saudischen Zeitung «Sharq Al-Aussat» erklärt er nun, nicht nur Jemen, sondern auch der Irak, Libanon und Syrien könnten von der Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien profitieren. Mit anderen Worten, die Stellvertreterkriege und Konflikte in diesen Ländern könnten, wenn nicht beendet, so doch gemildert werden.
Dass für den Iran Ali Shamkhani, der persönliche Vertreter Khameneis im nationalen Sicherheitsrat, das Verständigungsprotokoll mit den Saudis unterzeichnet hat – und nicht der Aussenminister – zeigt, dass der mächtigste Mann im Iran eine andere Politik gegenüber den Saudis anstrebt. Ob Ali Khameneis auch alles durchsetzen kann, was er will, das ist eine andere Geschichte, das wird die Zukunft weisen.
«Frau, Leben Freiheit» ist für beide gefährlich
International ist seine «Republik» isolierter denn je, innenpolitisch kann er die Parolen, die gegen seine Person in den Strassen gerufen werden, nicht überhören. Nur vor diesem Hintergrund ist seine unglaubliche Kehrwende gegen den Erzfeind zu verstehen.
Auch die herrschenden Wahhabiter haben in Riad kein Interesse an einer grundlegenden Veränderung im Nachbarland, die sich unter dem Slogan «Frau, Leben, Freiheit» ankündigt. Nicht nur von den Saudis, sondern von keiner arabischen Regierung war in den letzten fünf Monaten irgendetwas über den iranischen Widerstand zu hören. Alle schweigen, denn der Sieg dieser Bewegung, die manche eine «Revolution» nennen, könnte genauso viral gehen wie einst die Islamische Revolution.
Eine Annäherung als Weltpolitik
Die internationale Dimension der chinesischen Vermittlung ist kaum zu überschätzen. Es ist historisch einzigartig, wie eine kommunistische Macht zwei islamische Machthaber, die sich religiös und politisch seit über vierzig Jahren mit allen Mitteln bekämpften, zu einer Annäherung bringt.
Lehrreich ist auch die Zielstrebig- und Lautlosigkeit, mit der China seine Interessen im Nahen Osten verfolgt. Für den grössten Energieverbraucher der Welt hat die Sicherstellung von Energiequellen erste Priorität.
Mit anderen Worten, die Region um den Persischen Golf gehört zum nationalen Interessengebiet Chinas.
Stabilität im Nahen Osten ist die wichtigste Voraussetzung für Chinas Handelsbeziehungen mit den Golfstaaten, die inzwischen die Billionen-Grenzen erreicht haben. China hat in den letzten Jahren im Nahen Osten viele Milliarden in Infrastrukturprojekte investiert, so zum Beispiel in den Bau von Häfen und Eisenbahnverbindungen. Und China ist bestrebt, seine globale politische und wirtschaftliche Position zu verteidigen, wie Xi Jin Ping am vergangenen Sonntag auf dem KP-Kongress unmissverständlich formulierte. Die «One Belt, One Road»-Initiative, die darauf abzielt, eine neue Seidenstrasse beinahe rund um die Welt zu ziehen, läuft über den Nahen Osten.
«Postamerikanische Zeit» frohlocken Propagandisten
Einst bezeichneten die USA die Golfregion als ihr nationales Interessengebiet, für das sie bereit waren, auch Kriege zu führen. Doch je mehr sich die Herrschenden der Region von den USA vernachlässigt fühlten, umso mehr orientieren sie sich nach Peking und teilweise sogar auch nach Moskau.
Die «postamerikanische» Zeit habe längst begonnen, frohlockte Khameneis Hauspostille Keyhan in einem Kommentar an diesem Dienstag.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal