Die beiden arabischen Staaten, die im Verlauf des gegenwärtigen Neubeginns die Gelegenheit erhielten, echte Wahlen durchzuführen, Tunesien und Ägypten, haben Wahlresultate hervorgebracht, die sich in einer wichtigen Hinsicht gleichen. In beiden Staaten hat die gemässigte islamische Strömung, die für eine islamische Demokratie wirbt, die relative Mehrheit errungen. In beiden Staaten gab es auch eine Strömung der radikaleren Islamisten, die man heute eher Salafisten nennt. Das sind Leute, die einen "islamischen Staat" anstreben, den sie als einen Staat unter dem Gottesgesetz der Scharia (so wie sie von ihnen ausgelegt wird) ansehen. In Ägypten haben die Salafisten sogar den zweiten Platz, nach den Islamischen Demokraten errungen. In Tunesien gehören sie nicht zu den Parlamentariern, doch auf der Strasse machen sie sich umso energischer breit.
Zweiteilung der islamischen Parteien
In beiden Staaten stehen diesen islamischen Ausrichtungen eine Grosszahl von säkularen Gruppen gegenüber. Keine von ihnen bildet eine Mehrheit. Doch ein grosser Teil der modern ausgebildeten Eliten zählt zu ihnen, und es sind diese gewichtigen Minderheiten, die bisher in beiden Staaten wirtschaftlich und intellektuell führend waren. Sie haben auch den Vorteil, besser und enger mit der "globalisierten" Weltwirtschaft und Weltkultur zusammenarbeiten zu können. - So sehr, dass sie in den Augen der islamischen Gegenfront oft als "überfremdet" oder gar "im Dienste des (westlichen) Auslands stehend" gesehen werden.
Ihr Lebensstil bestimmt das Leben der wohlhabenden Oberschichten, sogar in Fällen, in denen diese fromme Muslime sein und als solche gelten und auftreten wollen. Doch die Wahlen haben in beiden Ländern gezeigt, dass die säkularen Gruppen politisch in sehr viele stark unterschiedlich ausgerichtete Parteien und Parteiungen gespalten sind. Diese in Ägypten knapp kleinere Hälfte der Wählerschaft in Tunesien knapp grössere, findet sich aufgespalten in Parteien, die das ganze politische Spektrum von Links nach Rechts umfassen. Es beginnt mit den mehrfachen Gruppen der Kommunisten, dehnt sich weiter aus über die Sozialisten, auch unterschiedlicher Schattierungen, zu den Nationalisten verschiedener Färbungen und endet mit verschiedenen Gruppen liberaler Ausrichtung sowie Klientelschaften kapitalistischer und hochkapitalistischer Patrone.
Säkulare Koalitionspartner
Die Gemeinsamkeiten in den Ergebnissen der demokratischen Wahlen gehen noch weiter. In beiden Ländern steht die Mehrheitspartei der "islamischen Demokraten" vor der Wahl, ob sie, mit den säkularen Parteien zusammenarbeiten wollen, um eine Regierung zu bilden oder mit ihren muslimischen Glaubensgenossen und Rivalen. In beiden Staaten hat die relative Mehrheit der "islamischen Demokraten" beschlossen, sie wolle nicht mit den Vertretern der "anderen" muslimschen Strömung zusammenarbeiten, sondern eine Koalition zur Regierungsbildung mit säkularen Parteien suchen, die bereit wären sich ihnen anzuschliessen.
In Tunesien, wo es eine solche Regierung schon gibt, besteht sie aus der "Troika" wie man sie nennt, von Nahda,das heisst, der Partei der islamischen Demokratie, und zwei Parteien des säkularen Zentrums, Kongress für die Republik und Ettaktol. In Ägypten gibt es noch keine parlamentarische Regierung, weil die herrschenden Militärs eine solche erst zulassen wollen, nachdem sie von der Macht abgetreten sein werden. Dieser Zeitpunkt ist gegenwärtig auf Anfang Juli angesetzt. Er soll eintreten, nachdem der neue ägyptische Präsident gewählt sein wird. Doch die dortige Mehrheitspartei, »Freiheit und Demokratie« der Muslimbrüder, erklärt schon seit geraumer Zeit bei jeder Gelegenheit, sie werde für die Regierungsbildung die Zusammenarbeit mit säkularen Partnern suchen.
Bruchlinien innerhalb der Koalition
Tunesien, wo die islam-demokratisch- säkulare Koalition gebildet wurde, zeigt sie die Schwierigkeiten auf, die sich für die Zusammenarbeit innerhalb einer solchen Koalition ergeben. Sie wurzeln im Misstrauen, das zwischen den Politikern der beiden Ausrichtungen besteht und noch viel mehr durch den tiefen Graben des Misstrauens, der sich zwischen den beiden Hälften der Gesellschaft auftut, welche man als die Hälfte der "politischen Muslime" beschreiben kann und die Hälfte der "modern Ausgerichteten".
Wobei unter den "modern Ausgerichteten" durchaus auch fromme Muslime zu finden sind. Doch es sind solche, die versuchen, religiöse und politische Belange möglichst zu trennen. Wie sich das in Europa und in Amerika seit der Aufklärung schrittweise und nicht ohne Rückschläge durchgesetzt hat. Die andere Hälfte, hier als "politische Muslime" eingestuft, besteht aus solchen, die eine derartige Trennung voll ablehnen (die "Salafisten") und aus anderen, die sie nuancieren möchten, in dem Sinne, dass sie den Islam als eine moralische Macht ansprechen, deren die Öffentlichkeit nicht entbehren könne (die tunesiche Mehrheitspartei von Nahda und die ägyptische der Muslim Brüder).
Ein Erbe des Misstrauens
Das Misstrauen ist durch die Vergangenheit beider Seiten gegeben. Die "moderne" Seite in Tunesien genoss die Zustimmung Ben Alis, das Regime förderte sie. Obwohl auch sie unter dem Einmannregime des Diktators und seinem Streben nach absoluter Macht und nach Reichtum zu leiden hatten. Doch die Gegenseite, die "islamische", besonders die "islamisch und demokratisch" ausgerichtete, sass in den Gefängnissen des Diktators oder lebte im Exil. Der gegenwärtige Ministerpräsident Tunesiens, Hamadi Jabali, hat 15 Jahre Gefängnis hinter sich, darunter fast zehn in Einzelhaft.
Das staatliche Propagandamonopol sorgte während einer Generation dafür, dass die muslimische Opposition, die gefährlichste, die es für den Diktator gab, möglichst schwarz gemalt wurde. Die Regimepropagandisten hatten es leicht, weil die muslimische Opposition selbst in der langen Zeit ihrer Niederhaltung eine innere Wandlung durchgemacht hatte. Sie stand in der Tat, als die islamischen Parteien gegründet wurden, den heutigen "Salafisten" näher. Die frühen Muslimbrüder (gegründet in Ägypten 1928) riefen nach einem "islamischen Staat", nicht nach einer islamischen Demokratie. Sie glaubten sogar, das Kalifat, das den islamischen Staat zum mindesten nominell von 632 bis 1924 geführt hatte, müsse wiedererstehen. Es war ein langer Prozess der politischen Reifung und Modernisierung, der die Muslim Brüder von einer Position, die jener der heutigen "Salafisten" nahe stand, bis zur Zielsetzung einer "islamischen Demokratie" führte.
Bloss Taktik, keine echte Gesinnung?
Viele ihrer Feinde glauben auch heute noch, dass dies kein aufrichtiger Wandel sei sondern nur eine Taktik, um die Macht zu ergreifen. Wenn sie diese ergriffen hätten, so argwöhnen sie, würden sie doch den "islamischen Staat" einführen und ihn dann mit Gewalt aufrecht erhalten. Die Kritiker können dabei auf Iran verweisen, wo die Gottesgelehrten zwar eine Art von Demokratie einrichteten, jedoch eine, die von ihnen gelenkt werden kann. Auch die afghanischen Taleban können als warnendes Beispiel angeführt werden. Sowie natürlich auch alle die radikalisierten Kleingruppen, die Jihad predigen und diesen Begriff als von Gott befohlene Gewaltanwendung, auch terroristischer Art, gegen die "unislamischen" Machthaber interpretieren.
Dass all dies dies auch bei ihnen noch kommen könnte, befürchten auch die Kritiker der regierenden AK Partei in der Türkei, die ebenfalls die "islamische Demokratie" auf ihre Fahnen geschrieben hat. Auch sie nach einem Entwicklungsprozess, der eine Loslösung von einer traditionelleren Islampolitik und einem engeren Islamverständnis vorausgegangen war.
Zwei Lebensstile
Dass es sich nur um eine Taktik handle, wenn sie von Demokratie redeten, werfen viele Säkularisten den "islamischen Demokraten" vor, in Tunis so gut wie in Ägypten, wie in der Türkei. Sie finden angebliche Belege für ihre Meinung, indem sie auf den Umstand verweisen, dass die grosse Mehrheit der Frauen unter den "islamischen Demokraten" Kopftücher tragen und sich auch in anderer Hinsicht in die traditionellen Rollen fügen, die nach einer engen Auslegung der Schari'a, also nach dem Islam Verständnis der "Salafisten", islamischen Frauen zustünden. Da zeige sie die wahre Absicht der Leute, die sich als "islamische Demokraten" bezeichnen, urteilen sie. Fragen der öffentlichen Sittlichkeit, der Meinungsfreiheit im Bereich der Religionen und ihrer gegenseitigen Sicht und Kritik geben immerwieder Anlass zu Diskussionen zwischen den säkular eingestellten und den islamischen Demokraten. Jedesmal ist für die säkularen die Haltung der islamischen Seite, auch die der islamischen Demokraten, ein Beweis oder Indiz dafür, dass ihre Gegenspieler "im Grunde" den "Errungenschaften der Moderne" ein Ende bereiten wollten.
Für die beiden Unterabteilungen der islamischen Ausrichtung ist dagegen die Haltung der Säkularisten stets der Imitation des Westens verdächtig. Aus dieser "islamischen" Sicht sind sie Leute, die nicht nur die eigene Religion ignorieren oder mindestens nicht ernst genug nehmen, sondern auch solche die ihre Identität als Muslime und Araber, beides gehört in ihrer Sicht untrennbar zusammen, in Frage stellen oder gar "verraten". Sie machen sich zu den Affen des Westens. Wenn sie sich als korrupt erweisen, wie das unter Ben Ali und unter Mubarak unübersehbar der Fall war, glauben die Leute der muslimischen Seite zu wissen, woher das kommt: weil ihnen die islamischen Moralbegriffe abhanden gekommen sind, urteilen sie.
Das Wagnis der Überbrückung
In der Gesellschaft laufen sehr sichtbare Trennungslinien zwischen den gläubigen Muslimen und ihrem sozialen und politischen Auftreten und den sehr anders erscheinenden Säkularisten, die grosso modo auch als die pro-Westler oder gar die möchte gern Westler gesehen werden. Schon in der Kleidung unterscheiden sie sich und wollen sie sich unterscheiden. Die Säkularen sprechen Französich in Tunis und englisch in Kairo. Ihre Kinder schicken sie in die fremden Schulen; ihre Frauen lassen sie "spärlich bekleidet" auf den Strassen herumlaufen usw. usw.
Doch die Politik der Muslim Brüder und der islamischen Demokraten Tunesiens geht darauf aus, nicht mit ihren radikaleren Glaubensgenossen, den "Salafisten" zusammenzuarbeiten sondern die Trennungslinie zwischen islamischen und säkularen Demokraten zu überbrücken, indem sie deren Parteien als Koalitionspartner nehmen. Gründe für diese Politik gibt es viele. Die "Salafisten" und die "Muslimischen Demokraten" sind Rivalen, weil sie sich um das gleiche muslimisch gesonnene Publikum bemühen und unter ihm ihre Anhänger suchen. Sie rivalisieren auch ideologisch, indem sie entgegengesetzte Islamverständnisse kultivieren. Einem jeden dieser beiden "islamischen" Gegenspieler erscheint der Andere als ein Entsteller des wahren Islams. Ihre politischen Stossrichtungen zielen auf Gegensätze, die einen auf "Demokratie", die anderen auf "Gottesherrschaft". Für islamische Demokraten ist daher ein säkularer Demokrat eher ein politischer Weggenosse denn ein "salafistischer" Mitmuslim. Sogar wenn sich beide als Muslime anerkennen.
Was denkt das islamische Volk?
Dies ist aus der Führungsetage gesehen sehr klar. Doch es wird undeutlicher aus der Sicht der unteren Ränge der beiden islamischen Tendenzen. In Tunis zeigt sich schon deutlich und in Kairo zeichnet sich ab, dass beide Seiten, die "Salafisten" von rechts und die "Säkularen" von links Druck auf die "islamischen Demokraten" ausüben, indem sie diese an den Grenzlinien ihrer politischen Gesamtposition herausfordern. "Seit ihr für oder gegen die Schari'a", wollen die Salafisten wissen; und "für oder gegen Bikinis für Touristinnen"? Bekennt Farbe, fordern sie.
"Seit ihr für echte Meinungsfreiheit?" fragen die Säkularisten, "und seit ihr daher bereit, zu dulden, dass Muslime vom Islam zurücktreten? Oder dass jüdische Männer islamische Frauen heiraten?" (Eine Frage für Tunesien, wo es fast keine einheimischen Christen gibt, aber immernoch Juden. In Ägypten würde die verfängliche Frage lauten, lasst ihr zu, dass christliche Männer muslimische Frauen heiraten?).
Überbietungsversuche auf beiden Seiten
Solche Fragen, Herausforderungen und Provokationen, kommen nicht nur theoretisch vor, wenn die Gelehrten sich untereinander besprechen. Sie entzünden sich an alltäglichen Vorkommnissen. Durchaus, weil es politische Interessen gibt, die von solchen Reibungen profitieren.
Jeden Freitag demonstrieren zwischen hundert und zweihundert besonders kratzbärtige und ausnehmend spektakulär verhüllte salafistische Aktivisten und Aktivistinnen vor den Toren des ihrer Ansicht nach "höchst unmoralischen" staatlichen Fernsehens und fordern, dass es endlich geschlossen und von solch unmoralischen Auswüchsen gereinigt werde, wie unverschleierten Sprecherinnen. An der Universität von Manouba herrscht grosser Streit. weil die "Salafisten" fordern, dass das Verschleierungsverbot, das dort für Studentinnen in den Klassen und während der Examina gilt, aufgehoben werde. Sie haben mehrmals die Aulen gestürmt und den Betrieb unterbrochen. Einmal nahmen sie einen Dekan zur Geisel.
Ein Zeitungsverleger suchte von der anderen Seite her zu provozieren, indem er ein zuerst in Deutschland veröffentlichtes Bild von einem deutschen Fussballspieler tunesischer Herkunft auf der Aussenseite seines Boulevard Blatts publizierte. Der Fussballspieler hält beide Hände über die nackten Brüste seiner deutschen Freundin, deren Unterleib nicht auf der Foto erscheint. Dies ging der "islamischen Demokratie" zu weit, das Blatt wurde konfisziert, der Verleger kam zwei Wochen lang in Untersuchngshaft, später musste er eine Geldstrafe bezahlen.
"Da sieht mans wieder", sagen die Säkularisten, "unsere islamischen Demokraten verstossen gegen die Pressefreiheit", und sie fügen hinzu: "wehret den Anfängen!"
Eine private Fernsehstation, die zum säkularen Lager gehört, zeigte den bekannten Trickfilm "Persepolis", der französischen Iranerin Satrapi. Satrapi mag die Gottesgelehrten und ihre ParteigängerInnen nicht, wie der Film deutlich macht. Doch zutiefst anstössig waren den Muslimen die wenigen Bilder auf denen Gott Vater erscheint und mit Satrapi redet. Denn Gott kann und darf im Islam nicht abgebildet werden. Dies führte dazu, dass die Fernsehstation belagert wurde und von der Polizei verteidigt werden musste. Später schritten vermutliche Salafisten zur Brandschatzung der Villa des Fernsehbesitzers.
Vorläufig noch ein Dreiecksringen in Ägypten
In Ägypten gibt es andere politischen Fronten, die bewirken, dass die Gegensätze zwischen Islamischer und säkularer Politik und Gesellschaftshälften (noch?) nicht gleich scharf in Erscheinung treten wie in Tunesien. In Kairo geht es noch immer in erster Linie um die künftigen Machtbefugnisse der Militärs oder der zivilen Politiker demokratischer Legitimierung. Doch die Trennungslinien zwischen "islamisch orientiert" und "säkular" sind auch dort unübersehbar.
In beiden Ländern besteht für die islamischen Demokraten, die es versuchen wollen, diese Trennungslinien zu überwinden, die gleiche Grundschwierigkeit. Sie stehen unter dem Druck jener, die sie auf der "islamischen" Seite zu überspielen suchen, das heisst der Islamisten oder Salafiten. Wenn sie deren Übertreibungen und bewusste Provokationen ignorieren oder sogar, wie es manchmal nicht zu umgehen ist, mit Gewalt zurückweisen, klagen diese sie an, "den Islam" zu verraten. Solche Anklagen werden auch bei einem Teil der eigenen Gefolgschaft Gehör finden. Man kann erwarten, umsomehr Gehör bei umso grösseren Teilen, je weniger es den heute in Tunesien bereits regierenden islamischen Demokraten gelingt, die wirtschaftlichen Misstände zu beseitigen, unter denen die Bevölkerung schwer leidet und deren baldiges Ende sie zuversichtlich erwartete, als vor einem guten Jahr die Revolution siegte. Das gleiche gilt in naher Zukunft für die Muslim Brüder in Ägypten, die bald einmal die Regierungsverantwortung werden tragen müssen.
Doch Provokationen und Versuche die Politik der muslimischen Demokraten zu diskreditieren, kommen auch von der säkularistischen Seite. Sie richten sich nicht nur gegen die Muslimbrüder sondern auch gegen deren Koalitionspartner, die den Vorwurf zu fürchten haben, sie hätten "ihre" Seite, jene der Säkularisten "verraten", um mit den "islamischen" Gegnern zusammenzuarbeiten, zweifellos wegen der Regierungsposten, die sie dadurch erhalten hätten. Auch sie müssen gewärtigen, von ihren Rivalen in "ihrem" Lager, jenem der Säkularisten, überrundet zu werden, wenn sich herausstellen sollte, dass die Regierung, bei der sie mitgemacht haben, wenig erfolgreich war.
Ideologie- und Identitätskämpfe statt Wirtschaftsentwicklung
Bei alledem drängt die Zeit. In beiden Staaten schmelzen die Devisenvorräte rasch an der Sonne des Überganges zur Demokratie, und der dringend erforderliche wirtschaftliche Aufschwung lässt auf sich warten. Die Politiker sind allzusehr mit der Einrichtung der neuen Demokratie beschäftigt (in Ägypten ist sie noch nicht voll verwirklicht, das Endspiel mit der Armee steht noch bevor; in Tunesien hat man vor einem Monat begonnen um die künftige Verfassung zu streiten) als dass sie in der Lage wären, die wirtschaftlichen Misstände wirksam anzupacken.
Unter diesen Umständen ist der Kampf auf beiden Seiten des Grabens zwischen Sekularität und Islam eine Art von Ablenkung. Er dreht sich um ideologische und gesellschaftliche Fragen, die zurückgestellt werden könnten und müssten, wenn es darum gehen soll, ob die künftigen demokratischen Regime in der arabischen Welt, soweit sie zustande kommen, wirtschaftlich und sozial überleben können oder ob sie zusammenbrechen.
Die Versuchung der Demagogie
Doch die Konkurrenzverhältnisse im demokratischen Machtkampf sind so, dass eine grosse Versuchung besteht, gerade diese Fragen anzuheizen. Sie liegen gewissermassen auf der Strasse. Jeder kann sie aufgreifen und Jedermann wird dabei ein Echo finden. Im Gegensatz zu den schwierigen und langwierigen Fragen des wirtschaftlichen Aufbaus sind sie sofort aufgreifbar, kostenlos und sofort wirksam. Alle Teile, die sich nicht an der Macht befinden, sind sich bewusst, dass dieses Spiel mit dem Feuer für sie gute Chancen bietet, die gegenwärtige Überbrückungspolitik der "muslimischen Demokraten" zu überspielen und für sich selbst mehr Macht zu erlangen.