Die Corona-Pandemie hält uns seit einem Jahr in Atem. Da verwundert es eigentlich nicht, dass sich auch Leitartikler und andere Welterklärer mit der Frage befassen, welches politische System und welche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung die Nase vorn habe bei der Bewältigung dieser Krise. Grob gesagt geht es bei diesen weltanschaulichen Betrachtungen um zwei widerstreitende ideologische Grundbegriffe: Kapitalismus und Sozialismus. Welche Glaubensrichtung bringt uns weiter Im Kampf gegen die Virus-Kalamität?
Der rettende Kapitalismus
Die Antworten mögen bei Lichte besehen komplex und widersprüchlich sein. Mit der ideologischen Brille betrachtet und am binären Massstab von Kapitalismus versus Sozialismus gemessen, fallen sie aber meist ziemlich eindeutig aus. Der Kapitalismus-Apologet behauptet frisch drauflos, «der Kapitalismus rettet uns» – so war es unlängst in einem NZZ-Leitartikel zu lesen. Begründet wird diese These mit der erstaunlich raschen Entwicklung von Corona-Impfstoffen durch private Konzerne und Forschungsunternehmen.
Offenbar überzeugt die überspitzte Behauptung nicht alle Leser. Einige Tage später wurden von dieser Seite einige gewichtige Einwände in der gleichen Zeitung publiziert. So wird darauf aufmerksam gemacht, dass die erfolgreichen Impfstoff-Firmen mit Milliardenbeiträgen aus der Staatskasse unterstützt worden sind. Ausserdem hätten China und Russland noch schneller wirksame Corona-Impfstoffe hergestellt – und das seien kaum Musterbeispiele eines «rettenden Kapitalismus», wie er dem NZZ-Leitartikler wohl vorschwebt.
Einäugige Sozialismus-Prediger
Aber auch die Sozialismus-Trommler argumentieren in Sachen Corona-Bewältigung nicht zimperlich. Als im Herbst und Winter die Zahlen der Covid-Ansteckungen und Toten in der Schweiz wieder stark anstiegen, schoben das einige SP-Obere kurzerhand den Bürgerlichen in die Schuhe. Diese hätten während der ersten Corona-Welle wegen ihrer Verbundenheit mit den kapitalistischen Wirtschaftsinteressen allzu früh auf eine Lockerung der Lockdown-Massnahmen gedrängt. Und in nicht wenigen Medienkommentaren war zu lesen, die stets staatskritischen Gralshüter der freien Marktwirtschaft (vulgo Kapitalismus-Prediger) hätten nach Ausbruch der Corona-Krise so etwas wie die Implosion ihrer ideologischen Glaubenssätze erlebt. Denn ohne milliardenschwere Staatshilfe für die Kurzarbeit und andere finanzielle Stützungsmassnahmen aus dem Füllhorn von Vater Staat hätte das rettende kapitalistische Unternehmertum in manchen Bereichen nicht überleben können.
Auch bei dieser Sichtweise wird ziemlich einäugig argumentiert. Was nicht in den vorgegebenen staatsgläubigen oder sozialistischen Raster passt, wird grosszügig ausgeblendet. Als ob der privat organisierte Teil des Gesundheitssystems nicht einen wesentlichen Beitrag zur Entschärfung der Pandemie-Krise beitragen würde. Ausgewichen wird auch der Frage, ob die Beschaffung und Verteilung der Corona-Impfstoffe nicht effizienter – vielleicht sogar preisgünstiger – durch nichtstaatliche Unternehmungen hätte organisiert werden können.
Und China?
Noch unübersichtlicher wird die Auslegeordnung, wenn man den Fall China in den ideologischen Wettbewerb einbezieht. Welcher Seite soll man das dynamische Riesenreich zurechnen? Einerseits definieren sich die Machthaber als kommunistisch, und entsprechend totalitär funktioniert ihre Einheitspartei. Andererseits läuft in China vieles nach urkapitalistischem Muster. Es gibt dort eine florierende Börse, harten Wettbewerb und mehr Dollarmilliardäre als in irgend einem andern Land.
Christoph Giesen, der Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung», bezeichnet dieses System als «Kapitalismus leninistischen Typs». Die SVP-Nationalrätin und Unternehmerin Magdalena Matullo-Blocher scheint mit diesen Widersprüchen keinerlei Probleme zu haben. Jedenfalls lobt sie den Umgang des chinesischen Regimes mit der Corona-Pandemie als vorbildlich, während sie gleichzeitig dem Bundesrat in Bern vorwirft, eine «Diktatur» errichtet zu haben.
Ausgeblende Mischrealität
Bei all diesem ideologischen Durcheinander fragt man sich, weshalb in dieser Debatte eigentlich kaum je der gute alte Begriff der «Sozialen Marktwirtschaft» vorkommt. Zumindest in unseren westlichen Breitengraden bringt er die tatsächlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten zweifellos präziser auf den Punkt als die ideologischen Kampfwörter Kapitalismus und Sozialismus. Denn im Grunde weiss jeder, dass (ausser vielleicht in Nordkorea) nirgendwo eines der beiden Gesellschaftsmodelle in Reinkultur existiert. Überall werden Mischformen von kapitalistisch-liberalen und sozialstaatlichen Strukturen praktiziert.
Doch mit dem realitätsnahen, Kompromisse signalisierenden Begriff der «Sozialen Marktwirtschaft» lassen sich eben weniger gut ideologische Schlachten und Wahlkämpfe schlagen, als mit den unversöhnlichen Kampf- und Schimpfwörtern Kapitalismus und Sozialismus. Dass diese antagonistischen Begriffe heutzutage wieder so auffällig in Stellung gebracht werden, hat vielleicht mit auch mit dem Corona-Blues zu tun – und der damit stimulierten Lust an rhetorischen Schaukämpfen.