Ein junger Autor schreibt in der seriösen deutschen Wochenzeitung «Die Zeit», zwischen einem Angriffskrieg und einem Verteidigungskrieg gebe es eigentlich keinen wesentlichen Unterschied. Im Kern gehe es immer um den Schutz und die Interessen der «eigenen Herrschaft», also der jeweiligen Regierung. Der Unterschied zwischen einer demokratisch gewählten Regierung und einem diktatorischen Regime interessiert ihn nicht.
«Ich, für Deutschland kämpfen? Never!» heisst der Titel eines inklusive Bild ganzseitigen Artikels im Feuilleton der «Zeit». Im Untertitel liest man: «Irgendetwas verteidigen, aber was genau? Ein Einspruch». Als Autor des Artikels zeichnet ein 26-jähriger Podcaster («Wohlstand für Alle», 48’000 Abonnenten) und Buchautor namens Ole Nymoen. Dieser Name war mir bisher unbekannt. Aber es interessiert mich, warum und mit welchen Gründen der junge Schreiber auf keinen Fall für Deutschland kämpfen würde.
«Ganz sicher nicht für mein Land und auch nicht für Europa»
Die generelle Antwort lautet salopp, eigentlich würde der Autor «für fast gar nichts» kämpfen. «Und ganz sicher nicht für mein Land, nicht für diesen Staat und auch nicht für Europa.» Für was er eventuell doch noch kämpfen würde, auf diese Frage geht der sich so selbstsicher gebärdende Podcaster zwar mit keinem Wort ein. Aber warum er auf keinen Fall weder für sein Land noch für Europa kämpfen würde, zu diesem Punkt wird er konkreter.
Denn sowohl bei Angriffs- als auch bei Verteidigungskriegen, behauptet der junge deutsche Bundesbürger, gehe es in erster Linie gar nicht um den Schutz und die Sicherheit der ganzen Gesellschaft, sondern «um den Schutz der eigenen Herrschaft», also der Regierenden und der «Grosskopfeten». Und weil der Schreiber sich nicht zu dieser Spezies zählt, würde er auch «nie» für sein Land kämpfen. Woher aber weiss er so genau, dass es bei allen Kriegen, ob Angriff oder Verteidigung, gar nicht um die Interessen der Gesellschaft, sondern hauptsächlich nur um diejenigen der Herrschenden geht?
Gleiche Motive für Putin und Selenskyj?
Der Einfachheit halber unterlässt es der Podcaster Ole Nymoen, anhand konkreter Beispiele seine pauschale Aussage etwas fassbarer zu belegen. Dabei hätte es eigentlich nahe gelegen, den Fall Russland und Putin im immer noch laufenden Angriffskrieg gegen die Ukraine als Beweismaterial für seine These ins Feld zu führen. Denn für jeden halbwegs klarsichtigen Zeitgenossen kann es keine Zweifel geben, dass es ohne den Kremlherrscher Putin diesen Krieg nicht geben würde. Der Hobby-Historiker im Kreml hatte schon Jahre vor dem Einmarsch in einer Denkschrift deklariert, dass die Ukraine eigentlich zu Russland gehöre und deshalb kein staatliches Existenzrecht habe. Putin und sein imperialer Machthunger sind die treibende Kraft hinter dem Ukraine-Krieg. Dass Russland und seine Bürger durch die Existenz der Ukraine und deren Interesse an einer eventuellen Mitgliedschaft in der EU und der Nato ernsthaft bedroht waren, sind konstruierte Propaganda-Mythen. Das Volk wurde jedenfalls nicht gefragt, ob es sich tatsächlich durch den ukrainischen Nachbarn bedroht fühlt und ob es diesen Angriffskrieg will.
Nun kann man einwenden, dass auch die Ukrainer nicht gefragt wurden, ob sie diesen Verteidigungskrieg wollen. Nach der abstrusen Logik des «Zeit»-Autors Nymoen verteidigt sich auch die Ukraine vor allem deshalb mit militärischen Mitteln gegen die russischen Angreifer, weil es der Regierung von Präsident Selenskyj darum geht, ihre Herrschaft zu sichern. Woher der Autor gerade in diesem Fall sein Wissen bezieht, bleibt wiederum sein Geheimnis.
Diktatorische und demokratische Entscheidungsmechanismen
Erschütternd ist nicht nur die politische und moralische Gleichsetzung von Angriffs- und Verteidigungskrieg, die der junge Podcaster in hochtrabendem Brustton als eine angeblich universal geltende Wahrheit vorträgt. Nicht weniger haarsträubend mutet auch seine konsequente Ausblendung (oder seine naive Unwissenheit) über die Unterschiede in den Entscheidungsabläufen von diktatorisch und demokratisch regierten Gesellschaften an. Putin kann de facto im Alleingang entscheiden, ob und wann seine Streitkräfte die Ukraine überfallen. Die Zustimmung durch die servilen Mitglieder im russischen Sicherheitsrat ist, wie man am Tag vor dem Einmarsch im Februar 2022 in einer gespenstischen Fernseh-Inszenierung aus dem Kreml gesehen hat, reine Alibi-Staffage.
So simpel und unbestritten läuft es, folgt man den Erkenntnissen von Ole Nymoen, in jeder anderen Gesellschaft auch ab, wenn die Regierenden sich zu einem Angriffs- oder Verteidigungskrieg entscheiden. Jedenfalls erwähnt er mit keinem Wort, dass in funktionierenden rechtsstaatlichen Demokratien die Regierenden fundamentale Weichenstellungen nicht über die Köpfe gewählter Volksvertreter hinweg durchsetzen können. Und dass in demokratisch organisierten Ländern die öffentliche Meinung durchaus eine bedeutende politische Kraft sein kann, die nicht so einfach manipuliert und mit roher Gewalt unterdrückt wird wie in Putins Russland.
Offenbar spielt es im simplizistischen Weltbild dieses Autors auch nicht die geringste Rolle, dass er im Angreiferland Russland seine Generalthese über das durchwegs selbstsüchtige und eigenmächtige Handeln der Herrschenden bestimmt nicht in einer vom Kremlregime tolerierten Zeitung publizieren könnte. Und dass er seine in Deutschland so lauthals, aber für ihn folgenlos verkündete prinzipielle Kriegsdienstverweigerung in Putins Reich höchstens dann in die Tat umzusetzen könnte, wenn er sich ins Ausland absetzen würde.
Erinnerungen an «Trau keinem über dreissig»
Eigentlich, schreibt der Autor schliesslich, sei es selbstverständlich, dass «in jedem Krieg ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung lieber unter fremder Herrschaft leben als im Kampf sterben will». Also lieber rot als tot – wie es im Kalten Krieg manche Stimmen aus pazifistischen Kreisen postulierten. Über diese Haltung und deren Konsequenzen kann man streiten. Doch das hat nichts mit der Gleichsetzung von Angriffs- und Verteidigungskrieg zu tun.
Auch in der angegriffenen Ukraine war und ist offenkundig ein Teil der Bevölkerung der Meinung, nicht kämpfen sei dem Militärdienst vorzuziehen, wie die erheblichen Zahlen von Wehrdienst-Flüchtigen zeigen. Aber mit hoher Sicherheit ist das nicht die Mehrheit der Ukrainer, die Präsident Selenskyj vor fünf Jahren mit über 70 Prozent Stimmenanteil gewählt hat, die so denken. Und gewiss würden nur wenige ukrainische Bürger der selbstgerechten Behauptung des deutschen Podcasters zustimmen, dass auch die Regierung Selenskyj in Kiew den Verteidigungskrieg gegen die russischen Invasoren nur zum Schutze ihrer eigenen Herrschaft führt.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Die verquere, unverblümt egozentrisch begründete Meinung des jungen Podcasters über die angeblich moralische und politische Unterschiedslosigkeit von Angriffs- und Verteidigungskriegen entsprechen natürlich nicht der Grundhaltung der liberalen «Zeit» und schon gar nicht ihrer Beurteilung des Ukraine-Krieges. Wenn sie dessen Ansichten dennoch veröffentlicht, ist dies offenkundig ein Beitrag zur Diskussions- und Meinungsfreiheit –, deren Existenz von den schärfsten Verächtern liberaler Gesellschaften oft genug bestritten oder bezweifelt wird.
Möglicherweise aber steht hinter der Publikation auch die leise Hoffnung, dass der erst 26-jährige Autor und seine Podcast-Fans sich im Lauf der Zeit zu etwas reiferen Ansichten über demokratische und diktatorische Herrschaftsverhältnisse durchringen werden. Ähnlich wie jene 68er Studenten in Deutschland, die sich einst am hochgemuten Kampfruf delektierten «Trau keinem über 30».