Es ist das dritte Mal seit Beginn der ägyptischen Revolution, dass es in Kairo zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Kopten und Muslimen kommt. Am 13. März starben bei Angriffen auf koptische Kirchen zwölf Menschen. Am 12. Mai kamen auf dem Tahrir-Platz bei Zusammenstössen zwischen Kopten und Muslimen 13 Menschen ums Leben.
Diesmal hatten die Kopten von Kairo zu einer Demonstration aufgerufen, um gegen Angriffe auf eine koptische Kirche in Asswan zu protestieren. Sie kritisierten auch die ungleiche Behandlung, die ihnen als christlicher Minderheit noch immer zuteil werde.
Diskriminiert fühlen sie sich, weil der Bau jeder koptischen Kirche vom ägyptischen Staatspräsidenten bewilligt werden muss. Anderseits können Moscheen mit einer normalen Baubewilligung, die auch für gewöhnliche Wohnbauten gilt, errichtet werden.
Die Kopten kritisieren auch, dass der Staat die Konversion eines Christen zum Islam anerkennt – nicht jedoch den Übertritt eines Muslims zum Christentum. Konversionen kommen in Ägypten meistens nicht aus religiösen Motiven vor, sondern überwiegend, um Ehen zu scheiden. Die koptische Kirche anerkennt keine Scheidungen, so dass der Übertritt zum Islam oft die einzige Möglichkeit bietet, eine legale Scheidung zu erlangen.
Eine umstrittene Kuppel
Im Falle der Marinab-Kirche in Asswan hatten Muslime erklärt, diese Kirche habe nicht die Bewilligung erhalten, eine Kuppel zu errichten. Unter diesem Vorwand war der Neubau am 30. September teilweise zerstört worden. Besonders erbittert waren die Kopten über den Gouverneur von Asswan. Von ihm wurde behauptet, er habe erklärt, der Angriff auf den Neubau sei rechtens gewesen. Viele forderten seine Absetzung.
Vereitelte Sit-in-Pläne
Die jetzige Demonstration war zuvor angekündigt worden. Begonnen hatte sie im Volksquartier Shubra, wo viele Christen und Muslime auf sehr engem Raum zusammenleben. Dort war es schon oft zu Zusammenstössen gekommen. Schliesslich bewegten sich die Demonstranten auf das Stadtzentrum zu. Offenbar wollten sie vor dem Fernsehgebäude, im Volksmund "Maspero" genannt, in dem auch das Informationsministerium seinen Sitz hat, ein Dauerlager der protestierenden Kopten einzurichten. Dies nach dem Vorbild der Protestlager auf dem nahe gelegenen Tahrir-Platz.
Doch solche Protestlager wollen die Militärs auf keinen Fall wieder zulassen. Seit sie im Mai den Tahrir-Platz haben räumen lassen, sehen sie die Revolution als in eine neue Phase getreten an. Jetzt fordern sie Ruhe und Disziplin, damit in Ordnung gewährt werden könne.
In vollem Tempo in die Demonstranten hinein
Der Protestzug war einer der grössten seit dem Sturz Mubaraks. Die Demonstranten wurden schon beim Anmarsch von einer Verkehrsüberführung aus mit Steinen beworfen und auseinandergetrieben. Doch sie hatten sich neu gesammelt und gelangten gegen acht Uhr vor dem Fernsehgebäude auf eine Sperre, die die Sicherheitspolizei und Armeeverbände errichtet hatten.
Die Sicherheitstruppen wollten möglicherweise eine neue Taktik anwenden. Mit ihren gepanzerten Fahrzeugen fuhren sie in vollem Tempo in die Massen hinein. Diese konnten nur knapp ausweichen und flüchten. Augenzeugen berichten, dass zwei schwere Fahrzeuge im Zickzackkurs durch die Menschenmenge rasten, um sie so zu vertreiben. Ein drittes Fahrzeug sei dann plötzlich in die Menge hineingefahren und habe neun oder zehn Personen zerquetscht.
Auch Muslime demonstrieren gegen die Sicherheitsorgane
Die so aufgebrachte Menge habe nun ihrerseits begonnen, Polizeifahrzeuge in Brand zu stecken. Schüsse fielen. Nicht nur Kopten seien gegen die Polizisten und Militärs vorgegangen, sondern auch Muslime. Sie rekrutierten sich wohl aus Kreisen der jungen Demonstranten, die sich gegen die Gewalt der Sicherheitsorgane wehrten. Sprechchöre richteten sich gegen Feldmarschall Tantawi und gegen das Vorgehen des SCAF, den herrschenden Militärrats. Von den 212 Verwundeten, welche das Informationsministerium zählte, sollen, nach diesen offiziellen Angaben, 86 den Sicherheitskräften angehören.
Angriffe auf das koptische Krankenhaus
Viele der Toten und der Verwundeten wurden in das nahe gelegene koptische Hospital verbracht. Dieses wurde anschliessend von Zivilisten angegriffen, die auf der Seite der Sicherheitskräfte standen.
Viele Kopten dürften nun der Ansicht sein, dass die Ordnungskräfte nie so brutal gegen demonstrierende Muslimen vorgegangen wären, wie sie es sich gegen die Kopten, erlaubten.
Später in der Nacht gingen zivile Stosstrupps, die vermutlich den radikalen islamistischen Gruppen angehörten, die in Ägypten Salafisten genannt werden, gegen Geschäfte in der Innenstadt vor, die Christen gehören sollen oder die Alkohol verkaufen. Sie zündeten Autos an, von denen sie glaubten oder zu glauben vorgaben, sie gehörten Christen.
Essam Sharaf sucht zu beschwichtigen
Noch in der Nacht sprach Ministerpräsident Essam Sharaf am Fernsehen. Er rief zur Ruhe auf und erklärte: "Die Vorfälle haben uns mehrere Schritte zurückgeworfen. Statt voranzukommen und einen modernen Staat nach demokratischen Grundsätzen aufzubauen, sind wir zurückversetzt. Wir müssen Stabilität suchen und nach den verborgenen Händen forschen, einheimischen oder fremden, die gegen die Sicherheit und die Unversehrtheit des Landes wirken. Ich rufe das ägyptische Volk auf, Muslime und Christen, Frauen und Kinder, jüngere und ältere Männer, ihre Einheit zu bewahren."
Später wurde für den Rest der Nacht und die folgenden Nächte ein Ausgehverbot verhängt. Doch es hat schon viele dieser Verbote gegeben. Die Aktivisten verschiedenster Richtungen halten sich kaum mehr daran. Am Sonntag wurden die ersten Verhaftungen vorgenommen. Die Festgenommenen kommen vor Militärgerichte. Doch diese bemühen sich nicht besonders, Anschuldigungen der staatlichen Anklage auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Wenn die Gefangenen Kopten sind, müssen sie fürchten, verurteilt zu werden, nur weil sie Kopten sind.
Neue Rechtfertigung für den Notstand
Das trotz den bevorstehenden Wahlen immer noch geltende Notstandsrecht war vor den jüngsten Unruhen von den politischen Parteien und der Revolutionsgruppen immer wieder kritisiert worden. Sogar Marschall Tantawi, der Vorsitzende des regierenden Militärrates, hatte erklärt, auch er möchte das Notstandsrecht abschaffen. Doch es müsse in Kraft bleiben, solange die Sicherheit im Lande nicht voll gewährleistet sei. Nun liefern ihm die Unruhen einen neuen Anlass, um den umstrittenen Notstand beizubehalten.
Natürlich fehlt es nicht an Kommentaren, die andeuten oder offen erklären, die Unruhen seien von Gegnern der Demokratisierung angefacht worden, um diesen zu verhindern. Viele glauben, diese Gegner befinden sich unter den Anhängern von Mubaraks Machtapparat. Auch bei der Polizei und im Innenministeriums gibt es offenbar noch viele von ihnen.
Die Kopten als Zweitklassbürger
Doch es ist auch sehr deutlich, dass nach wie vor starke Vorurteile gegen die Kopten bestehen, die sich zweifellos ebenfalls ausgewirkt haben. Sowohl die Muslim-Brüder, wie auch die Oberhäupter der verschiedenen Salafisten-Gruppen haben sich deutlich gegen die Angriffe auf die Kopten ausgesprochen. Sie rufen die muslimische Gemeinde auf, die Bürgerrechte der Kopten als vollberechtigte Mit-Ägypter anzuerkennen.
Doch die zahlreichen Übergriffe gegen koptische Kirchen, die immer wieder in ganz Ägypten vorkommen, sprechen dafür, dass solche Aufrufe nicht überall gehört werden. In der Vereinigung für Menschenrechte gibt es einen Verband, der sich speziell mit Übergriffen gegen die Kopten und ihrer Kirchen befasst. Er heisst EIPR (für: Egyptian Initiatie for Personal Rights). In einem ausführlichen Bericht dokumentiert er die Zwischenfälle der Jahre 2008 bis 2010. In dem Bericht wird auch das Vorgehen der Regierung kritisiert. Enthalten sind auch Vorschläge, wie das Problem besser anzugehen wäre.
Ein Relikt aus dem muslimischen Mittelalter
Die Hartnäckigkeit solcher Vorfälle ist letzten Endes durch den Widerspruch zu erklären, der zwischen der traditionellen und durch das ganze Mittelalter hindurch geltenden Religionsordnung im Islam besteht und den Erfordernissen eines modernen Staates mit Gleichberechtigung all seiner Bürger. Der klassische Islam kennt eine Rechtsordnung der Religionen, in welcher die Juden, die Christen, die Zoroastrier und nach manchen Schulen noch andere kleinere Religionsgemeinschaften, die alle Heilige Bücher besitzen, ein Recht darauf haben, ihre Religionen ungestört und unter ihren eigenen Religionsautoritäten zu pflegen. Doch sie sollen sich der islamischen Gemeinschaft unterordnen, weil nur der Islam als die Religion des muslimischen Staates gilt.
Stufentoleranz
Es handelt sich bei dieser Religionsordnung, die bedeutend liberaler ist, als sie es im mittelalterlichen und noch im neuzeitlichen Christentum war, um eine Stufentoleranz. Der Islam soll auf der höchsten Stufe stehen. Die anderen Religionen "des Buches" haben auch ihre Berechtigung; sie stehen jedoch auf einer niedrigeren Stufe. Die moderne Toleranz, die aus der europäischen Aufklärung hervorging, ist keine Stufentoleranz sondern eine der Gleichsetzung. Ihr gelten alle Religionen als letzten Endes gleichberechtigt. Für sie gibt es keine Staatsreligion. Diese Gleichsetzungstoleranz ist eine Vorbedingung für eine moderne Demokratie, die auf der Gleichheit aller Bürger beruht.
Eine moderne Demokratie als Ziel
Eine solche Demokratie wird nun in Ägypten angestrebt. Nicht zum ersten Mal. Seit dem 19. Jahrhundert wird immer wieder in neuen Ansätzen versucht, den ägyptischen Staat in eine demokratische Staatsform überzuführen. Doch die alte Vorstellung von der Stufentoleranz hält sich zäh. Auch in Europa blieb und bleibt die Frage von Staat und Religionen stets ein delikater Prozess. Sie wird in verschiedenen Kompromissen immer wieder von neuem gelöst oder neu austariert. In Zürich wurde vor wenigen Jahren darüber abgestimmt, ob der Staat weiter die Kirchensteuern einziehen soll oder nicht.
Verurteilung auch durch die Islamisten
In der islamischen Welt wiegt die Tradition der "klassischen", man könnte auch sagen der "mittelalterlichen" (wobei das "Mittelalter" bis ins 19. Jahrhundert hineinreicht und darüber hinaus) Religionsordnung schwer. Sie wird vom Prestige der Shari'a getragen, des im Frühmittelalter erarbeiteten Religionsgesetzes, das seinerseits bestrebt ist, auf den Koran und das Vorbild des Propheten zurückzugreifen.
Es ist deshalb bemerkenswert, dass die Oberhäupter der "islamistischen" Gruppen Ägyptens - nicht nur die Muslim-Brüder, sondern auch die leitenden Scheichs der Salafisten - die Übergriffe gegen die Kopten energisch verurteilen.
Die Einstimmigkeit, mit der dies gegenwärtig geschieht, ist neu. Sie ist erst unter dem Eindruck der Volksdemonstrationen entstanden, die sich darüber einig zeigten, dass Ägypten eine demokratische Regierungsform braucht.
Die alte Ordnung wird Vorurteil
Dennoch gibt es offenbar Kreise, die sich selbst mobilisieren oder die von anderen auf Unruhestiftung bedachten Interessen mobilisiert werden können (vermutlich ist beides der Fall), um das vermeintliche Aufbegehren der Kopten gegen die als unantastbar gesehene traditionelle Ordnung der Religionen "zu bestrafen". Dabei handelt es sich um Massen von Menschen, die ziemlich unartikuliert den altherkömmlichen Ansichten folgen, "so war es immer, und so soll es bleiben, der Islam zuerst, die Anderen untergeordnet", ohne einzusehen, dass die angestrebte Demokratie damit nicht vereinbar sein kann.
Wer zieht die Fäden?
Personen, Gruppen, Interessen, denen darin liegt, solche Gefühle auszubeuten, um ihre eigenen Zwecke zu fördern, fehlen nie. In Ägypten fragt man sich heute, wie weit hinauf solche Kreise reichen. Reichen sie bis zu den bisherigen Privilegierten des Mubarak-Regimes? Oder noch weiter, bis zu einigen der führenden Militärs und Sicherheitsleute, die möglicherweise darauf ausgehen könnten, den Übergang zur Demokratie so zu handhaben, dass sich möglichst wenig im sozialen Gefüge des Landes verändere, damit sie selbst Macht und Privilegien bewahren können?
*Two years of sectarian violence. What happened? Where do we begin? An analytical study Jan. 2009 to Jan. 2010
www.eipr.org/en/reports