Ein eher im Verbalen angesiedelter Vorgang während des sozialdemokratischen Sonderparteitags in der Wiesbadener Rhein-Main-Halle wirft ein geradezu bezeichnendes Schlaglicht auf diese Stimmung. Im Normalfall werden neugewählte Führungspersönlichkeiten von Delegierten und auch Journalisten als „Hoffnungsträger“, „Vertrauensgeber“ oder (schon ein wenig abgeschwächt) auch „Mutmacher“ bezeichnet. Im Falle der 47-jährigen, frisch gekürten Obergenossin machte hingegen das „schmückende“ Substantiv „Trümmerfrau“ die Runde. Und das trifft die Situation, in der sich die SPD befindet, ziemlich akkurat. Zumindest die älteren Generationen in Deutschland verbinden mit dem Begriff etwas ganz Konkretes – den Mythos um das Heer der Frauen nämlich, die nach dem Krieg den Schutt der Zerstörung zu beseitigten halfen.
Symbol und Wirklichkeit
Natürlich ist das ein Symbolbild. Und dennoch haftet etwas durchaus Reales daran. Es besteht ja gar kein Zweifel, dass die einst stolze Sozialdemokratie (die zu Beginn der 70er Jahre mit Willy Brandt voran sogar einmal die sieggewohnten Unionsparteien zu überflügeln vermochte) vor einem Haufen Trümmer steht. Und das keineswegs erst nach der katastrophalen 20,5-Prozent-Pleite bei der Bundestagswahl im vorigen September. Der lange Weg des Abstiegs war bereits gesäumt mit Namen und Personen, von denen heute noch mit Hochachtung gesprochen wird – Helmut Schmidt zum Beispiel, Johannes Rau oder Hans-Jochen Vogel.
Nun also soll es Andrea Nahles richten, die junge Frau aus der rauen Eifel, gross geworden im Schatten des legendären Nürburgrings. Ein Formel-1-Start – um im Bild zu bleiben – war mit dem Wiesbadener Konvent freilich nicht verbunden. Wer mit dem zweitschlechtesten Ergebnis in der Parteigeschichte ins Rennen geschickt wird, der muss schon ungewöhnlich viel Vertrauen in das Gesamtteam setzen, um überhaupt an eine Erfolgsaussicht zu glauben. 66,35 Prozent der gültigen Stimmen konnte Nahles auf sich vereinen, also nur zwei Drittel der Delegierten hinter sich versammeln. Das hatte – mit 63 Prozent – einst nur der Saarländer Oskar Lafontaine unterbieten können, als er (übrigens damals unterstützt von der Juso-Vorsitzenden Andrea Nahles) auf dem Mannheimer SPD-Parteitag 1995 den seinerzeitigen Parteichef Rudolf Scharping handstreichartig stürzte. Nur zur Erinnerung: 1999, als Bundesfinanzminister unter Gerhard Schröder, schmiss Lafontaine ohne jede Ankündigung alle Ämter hin, verliess seine Partei und wechselte zur einstigen DDR-Einheitspartei SED, die sich (nach dreimaliger Umbenennung) mittlerweile als „Die Linke“ bezeichnet.
Zwischen Heilsglauben und Depression
Die jetzigen 66,3 Prozent für die neue Parteichefin spiegeln im Prinzip genauso die innerparteilich herrschende Irrationalität wider wie ein Jahr zuvor die danach katastrophal verlaufenen 100 Prozent für den unglückseligen Interims-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Mit anderen Worten: Die Genossen (und natürlich auch Genossinnen) sind hin- und hergerissen zwischen Heilsglauben und Depression. Es muss ja auch für einen echten „Sozi“ (Originalton Helmut Schmidt) unerträglich sein, wenn trotz aller Bemühungen, wieder Ruhe in den Laden zu bringen und Zuversicht einzupflanzen, die jüngsten Umfrage-Ergebnisse mit 17 Prozent noch weiter in den Keller gerutscht sind. Zumal die Zweifel an und die Gegnerschaft zu der ja nun wirklich nicht aus Freude getroffenen Entscheidung über den erneuten Eintritt in eine Grosse Koalition in der Partei unverändert – und das heisst spaltlerisch – vorhanden sind.
Andrea Nahles hat nun genau diesen Zweiflern versprochen, es werde ihr gelingen, die Partei trotz der Partnerschaft mit CDU und CSU in der Berliner Regierung zu „erneuern“. Das ist ja seit der Bundestagswahl – und keineswegs nur bei der SPD – das Zauberwort: „Erneuerung“. Bloss – so richtig dahinter kommt man nicht, was denn nun eigentlich konkret damit gemeint sei. Personenbezogen kann es ja wohl kaum sein. Denn wirklich neue Gesichter tauchen in der neuen Parteiführung nicht auf. Und was die Karriere anbelangt, so reiht sich auch Nahles in die inzwischen längst überall übliche Phalanx der von drei Sälen bestimmten Lebens- und Politikverläufen ein: Kreiss-Saal, Hörsaal, Plenarsaal. Mit anderen Worten: Grossraumbüros oder Produktionshallen wurden erfolgreich gemieden.
Zurück zu den „alten Werten“?
Natürlich wird die Erneuerungsdiskussion immer sehr schnell mit Füllbegriffen beladen – Gerechtigkeit, Solidarität, Fürsprecher der „arbeitenden Bevölkerung“, Sprachrohr der „kleinen Leute“ … Das klingt gut und wird auch keinen Widerspruch hervorrufen. Bei Fragen nach konkreten Antworten ist es allerdings nicht mehr so einfach. Klar, bei einer Partei, die aus der Industrialisierung und den damit verbundenen Problemen hervorgegangen ist, möchte man gern wieder an alte Werte anknüpfen. Bloss, die moderne Arbeitswelt besteht nicht mehr aus Kohleminen und Stahlwerken. Gerechtigkeit lässt sich in derart vielschichtigen Gesellschaften wie den unsrigen ganz gewiss nicht mehr eindimensional definieren. Und Solidarität? In einer Zeit, in der die Globalisierung und weltweite Vernetzung in atemberaubender Geschwindigkeit vonstatten gehen, erscheinen nationale Vorschläge nicht wie überzeugende Lösungen. Gerade deshalb aber täten sich hier neue, moderne Wege in eine bessere Zukunft der „alten Tante“ SPD auf.
Nur – träfe das auf Gegenliebe in der Partei? Wo stünden dabei die mächtigen Gewerkschaften, wie etwa die IG Metall? Die sich, weiss Gott, bequem eingerichtet hat in den Führungsetagen von Konzernen wie VW und munter deren Tricksereien und Boni-Regelungen mitmachen. Und nicht nur das. Die SPD ist nicht nur traditionsgemäss eine Partei des Ausgebens, also des Verteilens sozialer Wohltaten. Aber nicht einmal das tut sie mit Freude. Egal, was die Genossen zum Beispiel während der vergangenen Wahlperiode als Regierungspartner durchgesetzt hatten – in der öffentlichen Darstellung war es ihnen keine Erfolgsmeldung wert, sondern in aller Regel ein weiteres Jammern über die Ungerechtigkeit der Welt, die falsch verteilten Steuern oder die Widerborstigkeit des Regierungspartners.
So ist die Lage
Das ist, vereinfacht gesagt, die Lage, in der die neue, weil Partei- und Fraktionschefin zugleich, mächtige Frau der deutschen Sozialdemokratie antritt, zunächst die innerparteiliche Stimmung und dann auch wieder die öffentliche Zustimmung zu verbessern. Andrea Nahles ist, keine Frage, eine Kämpfernatur. Die braucht sie aber auch, zumal es keineswegs nur darum geht, die Niedergeschlagenheit in der SPD wieder zu überwinden. Es herrscht im Lande ja insgesamt eine nicht gerade rosige Stimmung. Wer nur mal kurz durch die (a)sozialen Medien wie etwa facebook streift, hat Mühe, keine Depression bei sich aufkommen zu lassen. Er könnte leicht den Eindruck gewinnen, nicht in einem (im internationalen Vergleich) ziemlich geordneten und überhaupt durchaus vorzeigbaren Land zu leben, sondern in einem chaotischen, ungerechten, total überwachten Gebilde.
Tatsache ist auf jeden Fall, dass innerhalb der Gesellschaft erhebliche Unsicherheiten vorhanden sind. Anders wären die bei den Wahlen in den vorigen Jahren erkennbaren Massenabwanderungen von den traditionellen Volksparteien hin zu den Propheten der scheinbar einfachen Antworten auf schwierige Fragen im linken wie rechten politischen Spektrum nicht zu erklären. Auch dieses Problem gehört zu dem Brocken, deren Beseitigung von der Trümmerfrau Andrea Nahles jetzt verlangt wird.