Vergangene Woche warnte der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden bei einem virtuellen Wahlkampfauftritt, Donald Trump werde versuchen, die Wahl am 3. November «indirekt zu stehlen». Der Präsident werde argumentieren, dass Stimmen, die per Brief abgegeben werden, ungültig seien. Bereits früher hatte Biden bemerkt, Trump könnte auch versuchen, die Wahl zu verschieben oder im Falle einer Niederlage das Weisse Haus nicht freiwillig verlassen.
Unwahrscheinlich dagegen, was James Carville, einst Bill Clintons Wahlstratege, jüngst suggeriert hat: Dass Donald Trump angesichts schlechter Umfrage-Ergebnisse unter Umständen erwägt, eher aus dem Rennen um das Weisse Haus auszusteigen, statt eine saftige Niederlage an der Urne zu riskieren, und mit dem Rückzug seinen Brand schützt. Carville erinnert an die Präsidentenwahl von 1932, als Franklin D. Roosevelt während der Grossen Depression Amtsinhaber Herbert Hoover vernichtend schlug und 472 von 544 Elektorenstimmen errang.
Die Befürchtung von Wahlmauschelei hat vor Kurzem neue Nahrung erhalten, als der US-Präsident in einem Fernsehinterview auf Fox News auf die Frage, ob er den Ausgang des Urnengangs akzeptieren werde, antwortete, er sei sich dessen nicht sicher: «Ich warte mal ab.» Sein Entschluss, sagte Donald Trump, hänge von der Beschaffenheit der Briefwahl ab. Und doppelte ohne nähere Begründung auf Twitter nach: «Die Briefwahl könnte zur KORRUPTESTEN WAHL in der Geschichte unserer Nation führen.» Schon 2016 hatte Trump behauptet, die Wahl sei zu seinen Ungunsten «manipuliert». Ein Detail, dass der Präsident auch schon per Brief abgestimmt hat.
Gemäss «Washington Post» können am 3. November mindestens 76 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner per Post wählen, falls sie wollen. Angesichts der Corona-Pandemie ist anzunehmen, dass dieses Jahr mehr Wählende von dieser Möglichkeit Gebrauch machen werden als früher. Stellt sich noch die Frage, ob die amerikanische Post von der Infrastruktur und der Logistik her in der Lage sein wird, die zu erwartende Fülle von Briefstimmen rechtzeitig und reibungslos zu bewältigen.
Donald Trumps Taktik ist klar. Er sät zum Voraus Zweifel am Ausgang der Wahl, sollte er sie verlieren. Was zumindest aufgrund jüngster Umfrageergebnisse auf nationaler Ebene und in den Einzelstaaten nicht mehr auszuschliessen ist. Befragungen lassen vermuten, dass der Präsident unter jenen Wählergruppen Unterstützung verliert, die 2016 noch entscheidend mitgeholfen haben, ihn ins Amt zu hieven: weisse Frauen in den Vororten, ältere Menschen und jüngere Leute. Nachgelassen hat der Support für Trump auch in «battleground states» wie Pennsylvania, Michigan oder Wisconsin, jenen US-Staaten, die mal demokratisch, mal republikanisch wählen und in denen ein Kandidat gewinnen muss, will er die Mehrheit im Electoral College erlangen.
Donald Trumps wiederholten Behauptungen zum Trotz hat es in den Vereinigten Staaten bisher nur selten Fälle von Wahlbetrug gegeben. Laut Untersuchungen der konservativen Heritage Foundation waren in den vergangenen 20 Jahren lediglich 0,00006 Prozent aller per Brief abgegebenen Stimmen ungültig. In diesem Zeitraum haben 250 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner per Post gewählt. Bei den Zwischenwahlen 2018 waren es 31 Millionen, d. h. rund ein Viertel der Wählerschaft. Dem unabhängigen Brennen Center for Justice zufolge ist die Wahrscheinlichkeit eines Wahlbetrugs in Amerika geringer als jene, vom Blitz getroffen zu werden.
Trotzdem kommt Norm Ornstein, Forscher der konservativen Denkfabrik American Enterprise Institut, im Monatsmagazin «The Atlantic» pessimistisch zum Schluss, die Präsidentenwahl 2020 werde «chaotisch» sein: «Die jüngste Reihe von Vorwahlen hat mehrere Indizien von Pannen, Fehlern, Inkompetenz und Schlimmeren gezeitigt, Realitäten, die auch die landesweiten Wahlen im November heimsuchen könnten.»
Eines dieser Indizien ist die sinkende Zahl von Wahllokalen – ein Umstand, der auf fehlenden Ressourcen der einzelnen Wahldistrikte, dem Mangel an geeignetem Wahlpersonal oder gut funktionierenden Wahlmaschinen beruht. Fraglich ferner, ob die Wahlzettel rechtzeitig gedruckt werden können, falls andere Parteien wie die Grünen oder die Libertären ihre Kandidaten erst Ende September küren, und ob die Briefstimmen, falls sie wie erwartet zahlreich eintreffen, rechtzeitig gezählt werden, um die einzelnen Fristen bis zur Amtseinsetzung am 20. Januar 2021 einhalten zu können.
Bleiben die Versuche republikanisch regierter Staaten, bestimmten Bevölkerungsgruppen den Zugang zur Wahl gezielt zu erschweren. Dies zum Beispiel mittels Schikanen wie erschwerter Wählerregistrierung, die in erster Linie Minderheiten wie Schwarze oder Latinos treffen. Nicht auszuschliessen auch Versuche einzelner Akteure, das Wahlergebnis auf dem Rechtsweg anzufechten, was wie 2000 in Florida zu einer Nachzählung führen könnte, der damals erst der Oberste Gerichtshof zugunsten von George W. Bush ein Ende setzte.
Eine wichtige Rolle für das Funktionieren der Präsidentenwahl spielen auch die amerikanischen Medien, die sich vor vier Jahren mit irrigen Einschätzungen und falschen Prognosen nicht eben mit Ruhm bekleckert haben. Laut Margaret Sullivan, der früheren News Ombudsfrau der «New York Times» und heutigen Medienkolumnistin der «Washington Post», hat die Presse weniger als 100 Tage vor der Wahl noch eine letzte Chance, «2020 in den Griff zu kriegen».
Sullivan schlägt in der «Columbia Journalism Review» fünf Verbesserungen vor: einen grösseren Fokus auf das Thema Wahlrechte («Es gibt keine wichtigere Geschichte»); mehr Hintergrund zu Umfragen, um den Eindruck zu vermeiden, die Wahl eines bestimmten Kandidaten sei unvermeidlich: mehr kritische Distanz zu Präsident Donald Trump; das Widerlegen des Narrativs, von Trump und dessen Anhänger verbreitet, dass Joe Biden senil sei; und am Ende ein besseres Verständnis der Rolle, welche die sozialen Medien spielen.
Auf jeden Fall wird der Wahlausgang im November die Stimmung im Lande nachhaltig beeinflussen. Dies zu einem Zeitpunkt, der ungünstiger nicht sein könnte. Noch nie war in den USA der Nationalstolz laut Gallup so gering: Derzeit, nach Ausbruch der Corona-Pandemie, dem Kriechgang der Wirtschaft, dem Anstieg der Arbeitslosigkeit und den landesweiten Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus, finden nur noch ein Fünftel der Amerikanerinnen und Amerikaner, ihr Land sei auf dem richtigen Weg. Lediglich vier Monate zuvor war die Zufriedenheit der Bevölkerung noch so gross gewesen wie seit 15 Jahren nicht mehr.
Im Artikel «Amerikanischer Exzeptionalismus war unsere Vorerkrankung» zitiert Autor Dan Zak in der «Washington Post» einen Wähler in North Carolina, der 2016 Donald Trump gewählt hat, das inzwischen aber bereut und im November erstmals in seinem Leben für einen Demokraten stimmen wird: «Trump braucht keine Mauer zu bauen, weil Mexiko die Grenze zu uns schliesst. Wir können nicht reisen. Wir machen uns lächerlich. Entweder lacht die Welt uns aus oder sie bemitleidet uns.»