Die brutale Tötung eines afroamerikanischen Automobilisten durch fünf schwarze Polizisten in Memphis (Tennessee) verdeutlicht erneut, wie dringend notwendig in den USA eine Polizeireform ist – nicht über Budgetkürzungen, sondern durch bessere Ausbildung.
Die Aufzeichnung der Körperkamera eines Polizisten startet am 7. Januar 2023 um 08:24 Uhr. Sie zeigt, wie ein Beamter an einer Kreuzung die Türe eines Autos aufreisst und den schwarzen Fahrer aus dem Wagen zieht. «Ich habe nichts getan», sagt der Automobilist, der darauf zu Boden gestossen, wüst beschimpft und mit Pfefferspray traktiert wird. Es gelingt ihm aufzustehen und kurz wegzurennen, doch wenig später wird er von einem Polizisten eingeholt, erneut zu Boden gerungen und verprügelt. Um 08:33 Uhr ruft der Afroamerikaner wiederholt «Mom», worauf er erneut Pfefferspray in die Augen abkriegt.
Das Video zeigt weiter, wie Polizisten ihn treten und mit Schlagstöcken hauen. Einer der Gesetzeshüter schlägt den Fahrer fünf Mal auf den Kopf. Die Polizisten richten ihn auf und lehnen ihn an einen Streifenwagen. Um 08.41 Uhr rufen sie die Sanität der Feuerwehr, die drei Minuten später eintrifft, während die Polizisten lachen und noch über die Verfolgungsjagd plaudern. Erst 22 Minuten später trifft ein Krankenwagen ein, der den Schwerverletzen in ein Spital bringt.
Dort stirbt der Fahrer, der 29-jährige Tyre Nichols, FedEx-Angestellter und Vater eines vierjährigen Sohnes, drei Tage später an den Folgen seiner Verletzungen. Die beteiligten Polizisten, alle fünf Afroamerikaner und Angehörige der in Memphis auf Schwerverbrechen spezialisierten Einheit Scorpio, werden in der Folge suspendiert, gefeuert und des Totschlags angeklagt. Erneut hat ein Video dafür gesorgt, die «Blue Wall of Silence» zu durchbrechen, jenen informellen Code, der Polizeibeamte dazu verpflichten soll, nicht gegen Kollegen auszusagen, die sich unnötiger Gewalt schuldig machen oder das Gesetz brechen.
Die erste offizielle Polizeimeldung zum Vorfall in Memphis hatte noch anders getönt. Da war auf Twitter die Rede davon, dass Beamte versucht hätten, einen Autofahrer wegen unverantwortlichen Fahrens anzuhalten, es zwei «Konfrontationen» mit dem Betreffenden gegeben und sich der Verdächtige über Atemnot beklagt habe, worauf er in kritischem Zustand in ein Spital gebracht worden sei.
Die Meldung wäre fast untergegangen, hätte nicht eine Lokalzeitung näher recherchiert und mit Freunden des Opfers gesprochen, die sich «verwirrt» zeigten, weil sie Tyre Nichols nie als «konfrontativ» erlebt hätten. Das mehr als einstündige Polizeivideo zeigte nicht, wieso der 29-Jährige ursprünglich gestoppt worden war. Der Polizei in Memphis zufolge gab es aber keine Anzeichen für ein rechtswidriges Verhalten des Automobilisten. Gemäss seiner Familie war Tyre Nichols unterwegs, um den Sonnenuntergang zu fotografieren.
Inzwischen hat sein Tod, nicht zuletzt dank landesweiter Ausstrahlung des Videos in den Medien, nationale Aufmerksamkeit erregt. Die «New York Times» zum Beispiel meldete, die Polizisten hätten ihrem Opfer nicht weniger als 71 Befehle erteilt, denen er aber, da in Handschellen, gar nicht gehorchen konnte – zum Beispiel der Order, seine Hände zu zeigen. Die Diskussion dreht sich nun vor allem darum, wie Übergriffe wie jener in Memphis wiederholt geschehen können.
In den USA töten Polizisten jedes Jahr mehr als tausend Menschen – viele mehr, als die Todesstrafe trifft: rund zwanzig Verurteilte. Die Mehrheit der Opfer tödlicher Polizeigewalt sind schwarz, wobei 60 Prozent der US-Bevölkerung weiss sind. Schwarze werden aufgrund ihrer Hautfarbe von Polizisten eher getötet als Weisse, selbst in demokratisch regierten Grossstädten wie Chicago oder Baltimore, die sich offiziell für Rassengleichheit einsetzen.
Am 25. Mai 2020 hatte der weisse Polizist Derek Chauvin in Minneapolis den 46-jährigen Afroamerikaner George Floyd getötet. Der Beamte kniete neun Minuten und 29 Sekunden lang mit einem Teil seines Körpergewichts auf dem Hals des Verdächtigen und drückte ihm trotz zahlreicher Bitten Floyds und umstehender Passanten die Atemwege ab, bis er starb. Den Tod dokumentierte damals eine mutige 17-Jährige mit einem Handyvideo.
In der Folge kam es unter dem Motto «Black Lives Matter» in den USA und weltweit zu heftigen Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus, teils auch zu Ausschreitungen und Plünderungen. Aktivisten forderten landesweit «Defund the Police», verwehrt der Polizei die nötigen Mittel, was mitunter auch dahin gehend interpretiert wurde, die Polizei überhaupt abzuschaffen.
Nach dem Vorfall in Memphis ist es jüngst weitgehend ruhig geblieben; in der Stadt selbst fanden sich zu einer Demonstration nur einige Dutzend Leute ein. Nachdem 1993 der Afroamerikaner Rodney King in Los Angeles Opfer gravierender und auf Video dokumentierter Polizeibrutalität geworden war, die er aber überlebte, waren in der Stadt während sechs Tagen gewalttätige Proteste ausgebrochen.
Umso dringlicher wird zumindest in den Medien die Notwendigkeit einer Polizeireform diskutiert. Derweil hält sich die Politik vornehm zurück, es sei denn, um im Gegenteil wie die Republikaner aus Verbrechen respektive dem nötigen Kampf dagegen politisches Kapital zu schlagen und mehr Ressourcen für die Polizei zu fordern. Was rein statistisch gesehen auf den ersten Blick Sinn machen würde. Pro Kopf der Bevölkerung gibt es in den USA weniger Polizistinnen und Polizisten als in Deutschland oder Frankreich. Doch dieses Minus machen Amerikas Gesetzeshüter mit mehr Gewalt wett: Sie töten vergleichsweise viel mehr Menschen als ihre Kollegen in Europa und in der Anglosphäre.
Unterschiedlich sind auch Anforderungen, Dauer und Qualität der Polizeiausbildung. Diese ist in den USA viel kürzer als anderswo und dauert nicht einmal so lang wie etwa jene einer Kosmetikerin. «Glauben wir wirklich, dass ein Polizist 2’000 Stunden weniger Ausbildung benötigt, als jemand, der Haare schneidet und Fingernägel anmalt?», fragt Kolumnist Noah Smith auf der amerikanischen US-Online-Plattform Substack.
Nötig ist laut Smith nicht nur eine Professionalisierung der Polizei mittels längerer Ausbildung, sondern auch ein Abrücken von der «Kriegermentalität», die Auszubildenden in gewissen Polizeikorps eingeimpft werde. So ist es kaum ein Zufall, dass amerikanische Polizeikorps seit Jahrzehnten im Rahmen eines umstrittenen Sonderprogramms des Pentagons Armeewaffen wie Granatwerfer oder Panzerfahrzeuge im Wert von sieben Milliarden Dollas haben erwerben können – Waffen, welche die US-Streitkräfte in Kriegen einsetzen.
Auch sollten, findet Ökonom Noah Smith, höhere Anforderungen an das Bildungsniveau von Polizeirekrutinnen und -rekruten gestellt werden. Was zwar zwangsläufig höhere Budgets und höhere Löhne zur Folge hätte, die den Aktivisten von «Defund the Police» aber gar nicht in den Kram passen würden. Wobei es Studien zufolge in der Praxis kaum einen Unterschied macht, ob Polizistinnen und Polizisten in Amerika weiss oder schwarz sind. «Für viele Schwarze ist die Rasse eines Polizisten Polizist», sagt Bürgerrechtsanwalt und CNN-Mitwirkender Bakari Sellers.
Amerikas Polizeiproblem ist nicht, wie es gerne heisst, das Ergebnis «einiger fauler Äpfel», sondern systembedingt – unabhängig von all den Beamtinnen und Beamten, die ihren Job professionell und tadellos verrichten. Folglich wären Politik und Justiz gefragt, das zu ändern. Dies betrifft etwa jene rechtliche Doktrin, die Beamten im Einsatz «qualifizierte Immunität» gewährt und sie vor Zivilklagen weitgehend schützt.
Doch Befürworter einer Polizeireform sind wenig optimistisch, dass Washington DC, egal welcher Parteizugehörigkeit, nachhaltige Gesetzesänderungen beschliessen wird. Sie hoffen, dass sich auf lokaler Ebene etwas ändert, sei es durch verstärkte Aufsicht und Rechenschaft, die Auflösung spezialisierter Einheiten wie jener in Memphis, das Verbot gefährlicher Praktiken wie Würgegriffe oder durch den häufigeren Einbezug von Zivilisten in die Polizeiarbeit. Doch wie sagt Raumesh Akbari, ein Staatssenator in Tennessee: «Einen Kulturwandel kannst du nicht durch Gesetze herbeiführen.»