Das jüngste Schulmassaker in Uvalde (Texas) lässt mehrere Fragen offen. Nicht nur was das offensichtliche Versagen der Polizei betrifft, sondern auch die Rolle des Herstellers der tödlichen Tatwaffe.
Soziologieprofessor William S. Tod von der Universität Princeton zufolge wird das Entsetzen der amerikanischen Öffentlichkeit über die schreckliche Bluttat des 24. Mai 2022 nach rund vier Tagen in den Hintergrund rücken und der Normalität weichen. Der Soziologe stützt seine Einschätzung auf Umfragen, die das Meinungsforschungsinstitut Gallup zwischen 2008 und 2017 täglich durchgeführt hat.
Die Befragungen zeigten, dass sich das Befinden der Probanden, ohne darauf angesprochen worden zu sein, nach Ereignissen wie dem Schulmassaker an der Sandy Hook Elementary School in Newtown (Connecticut) am 14. Dezember 2014 einen Tag später jeweils spürbar verschlechterte. Die Frage lautete lediglich, ob sie sich am Tag zuvor zornig oder traurig oder glücklich gefühlt hätten. Doch wenige Tage später hatte sich die Gefühlslage der Befragten wieder auf normales Niveau eingependelt.
Politische Unterschiede
Das heisst gemäss den Meinungsforschern aber nicht, dass die Menschen das Massaker vergessen hatten oder es ihnen egal war: « Es heisst nur, dass wir zu unseren Leben zurückfanden, dass sich der Schrecken des Ereignisses vom Vordergrund unseres Bewusstseins wegbewegt hatte, auch wenn die Traurigkeit und der Zorn im Hintergrund blieben.»
Die Wirkung eines Massakers war wenig überraschend dort am stärksten spürbar, wo es passiert war, und der Effekt liess nach, je weiter weg vom Ort des Geschehens die Befragten lebten. Dabei pflegten Menschen, die demokratisch wählen, stärker zu reagieren, als Anhänger der republikanischen Partei. Trotzdem: Bei allen liessen die Emotionen wenige Tage nach einem Massaker nach und verschwanden allmählich.
Forschungsdaten zeigen auch, dass in den USA nach einem Massaker die Zahl der Gesetzesvorschläge steigt, die in den Parlamenten der Einzelstaaten eingebracht werden, solche Vorschläge aber nur selten in schärfere Waffengesetzgebung münden. In Realität bewirken Amokläufe sogar das Gegenteil und führen in Staatsparlamenten, die von Republikanern dominiert werden, zu einer Zunahme von Gesetzen, welche die Kontrolle über Schusswaffen und deren Herstellung lockern.
2 Sturmgewehre, 375 Schuss Munition
Der 18-jährige Rolando Ramos, der am 24. Mai in der Robb Primarschule in Uvalde 19 Kinder und zwei Erwachsene erschoss sowie 17 Menschen verwundete, kaufte eine Woche vor der Tat ein erstes halbautomatisches Sturmwehr und 375 Schuss Munition in einem lokalen Waffengeschäft und zwei Tage später im selben Laden ein zweites Gewehr. Bestellt hatte der Schütze die Tatwaffe über das Internet beim Waffenhersteller Daniel Defense in Black Creek (Georgia). Abholen konnte er das Sturmgewehr, offenbar ohne nähere Fragen beantworten zu müssen, im Waffengeschäft.
Nach dem Schulmassaker war auf der Website des Waffenproduzenten eine Pop-up Botschaft zu lesen, wonach die Firma den Betroffenen «Beileid und Gebete» schickte. Doch die Botschaft wich bald einer Ankündigung eines Gewinnspiels, die mit Patronen mit goldenen Hülsen verziert war und dem Gewinner des Wettbewerbs Waffen oder Munition im Wert von 15’000 Dollar versprach. Diese Ankündigung wurde erst zwei Tage später gelöscht.
Aggressives Waffenmarketing
Die Firma Daniel Defense ist mit einem Jahresumsatz von 73 Millionen Dollar (2016) und einem jährlichen Ausstoss von gegen 53’000 Waffen (2020) im Vergleich zu grossen Waffenherstellern wie dem 170-jährigen Smith & Wesson zwar relativ klein, betreibt dafür aber ein äusserst aggressives Marketing. Daniel Defense verkauft zum Beispiel Waffen wie die Tatwaffe in Uvalde auf Abzahlung und die Überprüfung des Käufers erfolgt innert Sekunden. Das Sturmgewehr des Typs DDM4, das Rolando Ramos beim Waffenproduzenten geordert hatte, kostete 1’870 Dollar plus Steuern. Noch ungeklärt, woher der Jugendliche, ein Schulabbrecher und Sohn einer alleinerziehenden drogensüchtigen Mutter, das nötige Geld hatte.
Bekannt ist jedoch, dass Besitzer Marty Daniel und seine Frau Cindy eifrige Spender für Wahlkämpfe republikanischer Politiker sind. Das Paar hat laut offiziellen Daten in den vergangenen zwei Jahren Republikaner mit 510’000 Dollar unterstützt. Alle sind sie Gegner einer schärferen Waffenkontrolle. Einer Gruppierung, die Donald Trump nahesteht, spendeten die Daniels seinerzeit 300'000 Dollar. Die Begründung: «Trumps Wahl rettete unsere Rechte unter dem Second Amendment», d. h. das in Amerika verbriefte Recht auf Waffentragen. Nur bei Donald Trumps Auftritt vergangene Woche vor der nationalen Waffenlobby in Houston (Texas) war im Saal das Tragen von Waffen kurioserweise verboten.
Marty und Cindy Daniel leiten auch die Stiftung «Assets for Christ», die Kirchen hilft, neue Gotteshäuser zu bauen oder alte zu renovieren: ein Schelm, wer sich was Böses denkt. Noch eine Woche vor dem Massaker schrieb Cindy Daniel der katholischen Benedictine Military School, einer High School in Savannah (Georgia), einen Check über 28’148.39 Dollar zur Unterstützung des Sportschützenteams.
Florierende Waffenindustrie
Derweil floriert Amerikas Schusswaffenindustrie wie selten zuvor. Im vergangenen Jahr verkauften Hersteller laut Schätzungen 19,9 Millionen Schusswaffen, nur unbedeutend weniger als 2020, als es 22,8 Millionen gewesen waren. Kritiker vergleichen die Schusswaffenhersteller mit den Produzenten von Opioiden, die – einst als Heilsbringer in Sachen Schmerzmedikamente gepriesen – heute als Verursacher einer Suchtepidemie und zahlreicher Tode durch Überdosen kritisiert und teils rechtlich verfolgt werden.
Ähnliches könnte auch Daniel Defense widerfahren: Anfang Jahr erzielte der Waffenhersteller Remington eine Einigung mit den Eltern von Kindern, die 2012 in Sandy Hook getötet worden waren. Die Entschädigung für 20 tote Sechs- und Siebenjährige: 73 Millionen Dollar. Die Familien hatten Remington angeklagt, seine Sturmgewehre unanständig aggressiv vermarktet zu haben, wie Daniel Defense das teils unter Anspielung auf Bibelverse noch heute tut. Die Website der Firma verrät, wie es war, als ihr Gründer seinerzeit erstmals mit einem Sturmgewehr zu ballern begann: «Jeder Schuss erfüllte ihn mit einer tiefen Befriedigung, die er so zuvor nie erfahren hatte.»
78 lange Minuten
Für einen Aussenstehenden ist am Ende unbegreiflich, dass eine Nation, deren Militär über ein Jahresbudget von mehr als 600 Milliarden Dollar verfügt, um äussere Feinde abzuwehren, offenbar weder den Willen noch die Mittel besitzt, im Innern ihre Kinder adäquat zu schützen. Dass eine Nation, deren hochgerüstete Polizei sonst wenig Hemmungen zeigt, aggressiv gegen aufmüpfige Bürgerinnen und Bürger vorzugehen, es nicht schafft, klare Befehlsstrukturen und Kompetenztrennungen unter einzelnen Korps zu institutionalisieren. In Uvalde sind Vertreter dreier Einheiten vor Ort, aber es dauerte 78 lange Minuten, bevor die ersten Polizisten ins Schulgebäude eindrangen, um den Täter zu stellen.
Ein Mädchen im Innern der Schule ruft die Nummer der Polizei ein erstes Mal um 12:03 Uhr an und flüsterte, sie sei in Zimmer 112. Nichts geschieht. Es wählt wenige Minuten später die Notnummer 911 ein zweites Mal und berichtet, es seien mehrere Kinder getötet worden, und wenig später erneut, um mitzuteilen, es seien noch acht oder neun Kinder am Leben. «Bitte schicken Sie die Polizei», bittet das Mädchen den Dispatcher um 12:43 Uhr, 40 Minuten nach dem ersten Anruf.
Auch andere Kinder in der Schule rufen die Polizei an; auf einem der Anrufe sind um 12:21 Uhr drei Schüsse zu hören. Rolando Ramos hat die Schule um 11:33 Uhr betreten; Grenzpolizisten dringen um 12:50 Uhr mit einem Hauptschlüssel des Abwarts in das Schulzimmer ein, in dem sich der Schütze befindet, und feuern 27 Schüsse ab. Der Täter stirbt. Zum Zeitpunkt des Eingriffs ist das Mädchen aus Zimmer 112 noch am Telefon; es hängt auf und überlebt.