Anfang Woche ist bekannt geworden, dass sich ein vierter Polizist das Leben genommen hat, der am 6. Januar 2021 (1/6) das US Capitol in Washington DC verteidigte. Er und seine Kollegen hatten Amerikas Volksvertreter vor einem Mob beschützt, der die Niederlage Donald Trumps bei der Präsidentenwahl im November gewaltsam rückgängig machen wollte. Die Attacke auf das Parlamentsgebäude ist in der Folge, je nach politischer Perspektive, als Putschversuch, als Volksaufstand oder als Protest bezeichnet worden. Sicher aber war sie nicht, was ein republikanischer Abgeordneter aus Georgia sie aufgrund der Fernsehbilder nannte, «ein normaler Besuch von Touristen».
Seit vergangener Woche untersucht ein Sonderausschuss des Abgeordnetenhauses, was an jenem Mittwoch im Januar geschehen ist. Eigentlich hätte das eine unabhängige, überparteiliche Kommission tun sollen, aber die Republikaner im Senat stimmten mit fadenscheinigen Begründungen gegen ein solches Vorgehen, während sie in Tat und Wahrheit lediglich ihre Chancen bei den Zwischenwahlen 2022 nicht schmälern wollten. Sie wagten es nicht, Donald Trump zu desavouieren, der ihre Partei nach wie vor eisern im Griff hat. Trotzdem gehören zwei dissidente republikanische Angeordnete dem Ausschuss an: Liz Cheney, die Tochter eines früheren Vizepräsidenten aus Wyoming, und Adam Kinzinger, ein Veteran aus Illinois, der als Pilot der Air Force in Afghanistan und im Irak gedient hat.
Wie abgrundtief die einst staatstragende republikanische Partei gesunken ist, zeigten sechs ihrer Angeordneten am Tag vor der ersten Sitzung des Ausschusses am 27. Juli. Eskortiert von einem Mann in einem Trump-Kostüm mit der Botschaft «TRUMP WON», marschierten sie zum Sitz des Justizministeriums in Washington DC, um gegen die Einsetzung des Ausschusses zu protestieren: «Das (die Angreifer) sind keine Unruhestifter oder gefährliche, gewalttätige Verbrecher», verkündete Repräsentant Paus Gosar aus Arizona: «Das sind politische Gefangene, die jetzt verfolgt werden und den Schmerz ungerechten Leidens ertragen müssen.» Fast 600 Personen müssen sich für ihre Teilnahme am Sturm auf das Capitol vor Gericht verantworten.
Die sechs Republikaner verteilten einen Brief, in dem sie behaupteten, den Angeklagten des 6. Januar seien «potenziell entlastende Indizien» vorenthalten worden und sie würden «grausamen und ungewöhnlichen Strafen» unterzogen. Währenddessen schwenkten ihre Anhänger Transparente, auf denen etwa zu lesen war: «Der 6. Jan. War ein Inside-Job» – in Anspielung auf die von rechten Kreisen verbreitete Verschwörungstheorie, wonach Agenten des FBI mitgeholfen hätten, die Attacke auf das US-Parlament zu organisieren.
Dass sich Liz Cheney und Adam Kinzinger gegen die Augenwischerei aus den eigenen Reihen stemmen, ehrt sie, auch wenn es ihnen künftig politisch schaden dürfte. «Ihr Ziel (jenes der Angreifer) war es, Amerikas politischen Prozess zu sabotieren. – Ihre Mittel zum Zweck waren rohe Gewalt und gewaltsame Attacken auf die Männer und Frauen der Capitol Police und der Stadtpolizei, schrieb Adam Kinzinger in einer Kolumne für die «Washington Post». Indes rügte Liz Cheney unverblümt ihre Partei-Kolleginnen und -Kollegen: «Werden wir uns so von Parteilichkeit blenden lassen, dass wir das Wunder Amerikas wegwerfen? Hassen wir unsere politischen Gegner mehr, als wir unser Land lieben und die Verfassung verehren?».
Donald Trump selbst hatte die Angreifer Mitte Juli noch vollmundig gelobt. «Sie waren nur aus einem Grund dort: die manipulierte Wahl», sagte er: «Und es waren friedliche Leute. Es waren grossartige Leute. Die Menge war unglaublich. Und ich habe das Wort ‘Liebe’ erwähnt. Die Liebe – sie lag in der Luft, ich habe nie zuvor etwas Ähnliches gesehen.»
Nur zehn Tage zuvor hatte der Ex-Präsident, der jegliche Verantwortung für die Vorfälle an 1/6 von sich weist, dem amtierenden Justizminister laut Protokoll am Telefon mitgeteilt, er brauche sich nicht mehr näher mit den jüngsten Wahlen zu beschäftigen: «Sagen Sie einfach, dass der Urnengang korrupt war und überlassen Sie den Rest mir und den (republikanischen) Parlamentariern.»
Was meinte Trump damit und was wäre in Amerika geschehen, hätte der Justizminister seinen Rat befolgt? «Seien wir ehrlich», folgert «US Guardian»-Kolumnist Robert Reich, der unter Bill Clinton Arbeitsminister gewesen ist: «Das war ein versuchter Staatstreich.» All das, so Reich, wäre schon schlimm genug, wäre Trump lediglich ein Irrer, der pathetisch auf einer Bühne seiner Wahl auftritt, ein Möchte-gern-Diktator, der zufälligerweise Präsident wurde und dann, als er die Wiederwahl verlor, komplett durchdrehte, um danach in der Mülltonne der Geschichte entsorgt zu werden.
«Doch Trump war kein Zufall und er steckt in keiner Mülltonne», weiss der frühere Minister. «Er hat eine der beiden grossen Parteien Amerikas in einen Personenkult verwandelt. Er hat die wichtigste Kluft in den USA als einen Zusammenstoss definiert zwischen jenen, die ihm glauben, was den Wahlausgang 2020 betrifft, und jenen, die das nicht tun.» Donald Trumps Proto-Faschismus, fürchtet Robert Reich, stelle seit dem Bürgerkrieg die grösste Bedrohung für die amerikanische Demokratie dar.
Ziel des Sonderausschusses zu 1/6, der sich demnächst ein zweites Mal treffen soll, ist es nun, herauszufinden, wer, wann, wo und warum was gesagt, gewusst, angeordnet, unterlassen oder organisiert hat. Wie es zum Sturm auf das Capitol kommen konnte, den die einen als Putschversuch und die anderen als friedlichen Protest sehen. Wer die Angreifer waren, die laut einem Polizisten «Terroristen», eigenem Bekunden zufolge aber «Patrioten» waren?
Der Ausschuss will ergründen, wie gross am Ende die Verantwortung eines zwar abgewählten, aber noch amtierenden US-Präsidenten war, der einen demokratischen Prozess, die friedliche Machtübergabe nach Wahlen, mutwillig sabotiert hat. «Amerika ist attackiert worden, und wir verdienen es, zu erfahren, wie und warum es geschehen ist», sagt der Abgeordnete Kinzinger. «Ich bin zwar ein Republikaner und konservativen Werten verpflichtet, aber ich habe einen Eid geschworen, unsere Verfassung zu wahren und zu verteidigen.»
Von den Folgen, die das Land aus den Erkenntnissen der Untersuchung des Sonderausschusses zieht, wird abhängen, ob Amerikas Demokratie, die durch Donald Trumps Präsidentschaft und das Vorgehen der ihm sklavisch ergebenen republikanischen Partei schwer beschädigt worden ist, halbwegs genesen kann. Ob die Nation, tief gespalten wie seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr, erneut einen gemeinsamen Nenner und zu gemeinsamem Verständnis finden kann.
Die nächsten Wahlen stehen 2022 an und noch gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Republikaner sich mässigen werden, was ihre transparente Absicht betrifft, bestimmten Volksgruppen das Wählen zu erschweren – im Gegenteil. Einzelne Kommentatoren sind sich auch sicher, dass Donald Trump 2024 erneut kandidieren wird. Auf jeden Fall hat der Ex-Präsident, unter Vorgabe falscher Verwendungszwecke, unter seiner Anhängerschaft bereits wieder zig Millionen Dollar gesammelt. Amerikas Alptraum ist noch nicht zu Ende.