Bei den Zwischenwahlen im November entscheiden Amerikanerinnen und Amerikaner über die Zukunft ihrer Nation. Werden die USA eine verlässliche Demokratie bleiben oder zu einer unberechenbaren Autokratie mutieren? Die Kandidatenauswahl der republikanischen Partei macht wenig Hoffnung.
Am 8. November 2022 stehen in den USA wie alle vier Jahre Zwischenwahlen an. Es seien, wie es bedeutungsschwer heisst, Schicksalswahlen. Auf dem Spiel stehe am Ende, prognostizieren Pessimisten, nichts weniger als die Zukunft der amerikanischen Demokratie. Auf jeden Fall dann, wenn es der republikanischen Partei (GOP) gelingt, in beiden Häusern des Kongresses jene Mehrheit zu gewinnen, über welche die Demokraten wenn auch nur knapp heute verfügen.
Im 435-köpfigen Abgeordnetenhaus hat die demokratische Partei noch acht Sitze mehr; im 100-köpfigen Senat liegt sie dank zweier Unabhängiger mit der GOP gleichauf, wobei die Vizepräsidentin bei Bedarf den Stichentscheid fällt. Aktuellen Umfragen zufolge dürften die Republikaner das Haus erobern, während im Senat die Demokraten nicht zwangsläufig verlieren müssen.
An sich ist bei US-Zwischenwahlen ein Machtwechsel im Kongress nichts Aussergewöhnliches. Ein Kippen der Mehrheitsverhältnisse ist historischer Erfahrung zufolge eher die Regel als die Ausnahme. Was die diesjährigen «midterms» aber besonders macht, ist der Umstand, dass bei einem Machtwechsel in Washington DC für die republikanische Partei Politikerinnen und Politiker ins Parlament einziehen, die mit Demokratie wenig, mit Autokratie aber viel am Hut haben. Und die Donald Trump und dessen «Big Lie» ohne Scham unterstützen. Einer ist versucht, im Kontext der Kandidatenauswahl der GOP an die Zirkusnummer des «Clown Car» zu denken - jene in den USA populäre Routine, bei der eine unglaublich grosse Anzahl von Clowns aus einem sehr kleinen Auto steigt.
Eines der Lieblingsthemen der GOP im Wahlkampf ist Amerikas steigende Verbrechensrate, welche die Republikaner den Demokraten in die Schuhe schieben, weil diese bei der Verbrechensbekämpfung angeblich zu «weich» agieren. In Wirklichkeit ist der Zunahme tödlicher Delikte der wachsenden Zahl von Schusswaffen geschuldet, die zu kontrollieren die GOP sich weigert, obwohl in republikanisch regierten Bundesstaaten mehr Verbrechen begangen werden als anderswo.
An der Inflation ist laut Republikanern neben steigenden Löhnen Präsident Bidens Ausgabenpolitik schuld. Hingegen sind in den USA gemäss dem früheren Arbeitsminister Robert Reich Grossunternehmen die Treiber der Teuerung, weil sie ihre Preise stärker anheben, als die steigenden Kosten es verlangen würden. Währenddessen lassen republikanische Politikerinnen und Politiker den Entscheid des Obersten Gerichts, das Recht auf Abtreibung landesweit abzuschaffen, auffällig unerwähnt.
Umso eindringlicher warnen sie vor einem Heer von Steuerbeamten, das die Demokraten der Mittelklasse angeblich auf den Hals hetzen wollen. In Wirklichkeit geht es darum, den früheren Beschäftigungsstand der USW-Steuerbehörde (IRS) wiederherzustellen, um besser gegen Steuerhinterzieher vorgehen zu können.
Weiter haben führende Republikaner im Haus verlauten lassen, sie würden sich im Falle eines Sieges bei den Zwischenwahlen weigern, die Schuldenobergrenze anzuheben, falls sich die Demokraten nicht mit Kürzungen bei nationalen Programmen einverstanden erklären. Davon betroffen wären wohl die staatliche Altersvorsorge («Social Security») und die Krankenversicherung für US-Bürgerinnen und Bürger ab 65 («Medicare»).
Ferner auf der Agenda der GOP: ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Joe Biden, für das sich die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene stark macht, die sich als «christliche Nationalistin» sieht. Die 48-Jährige ist Trump-Verehrerin, Sektenanhängerin, Verschwörungstheoretikerin, Schusswaffenbesitzerin, Leugnerin des Klimawandels und Verbreiterin von Fake News in einem. Unter anderem behauptet sie, dass das Massaker an der Marjory Stoneman Douglas High School 2018 in Parkland (Florida) lediglich eine Inszenierung gewesen sei und dass ein Laser im Weltall, im Besitz der Familie Rothschild, im selben Jahr in Kalifornien ein Lauffeuer angefacht habe.
Der auffälligste republikanische Senatskandidat ist wohl Herschel Walker in Georgia, ein früherer Football-Star der «Dallas Cowboys». Walkers Wahlkampf ist geprägt von Pleiten, Pech und Pannen und er pflegt so unverfroren zu lügen, dass sich sogar sein eigener Sohn von ihm distanziert hat. Trotzdem hält die GOP unverbrüchlich an ihm fest – gemäss der auch in der US-Aussenpolitik bewährten Maxime: «He may be a bastard, but he’s our bastard.»
In Ohio derweil kandidiert J. D. Vance für die Republikaner. Vance, Autor des viel beachteten Buches «Hillbilly Elegy» über die Gründe für den Aufstieg Donald Trumps, bewirbt sich heute, als Kapitalmanager vermögend geworden, schamlos um die Gunst des Ex-Präsidenten und propagiert unverblümt dessen MAGA-Fantasien. Seinem demokratischen Konkurrenten wirft er vor, er sei wohl kein richtiger Bewohner Ohios, da er Yoga liebe. Vance hat auch angetönt, Präsident Joe Biden lasse absichtlich das süchtig machende Schmerzmittel Fentanyl über die mexikanische Grenze kommen, um republikanische Wählerinnen und Wähler zu bestrafen.
Weniger bekannt, aber deswegen nicht weniger verhaltensauffällig sind GOP-Kandidatinnen und -Kandidaten für das Repräsentantenhaus. Einer unter ihnen, ein Günstling Donald Trumps in Ohio, will alle Behörden abschaffen, deren Akronym sich wie im Fall der CIA, des FBI oder der DEA auf drei Buchstaben verkürzen lässt. In einem Wahlkampf-Video tritt er mit einem Gewehr auf und verspricht, er werde alles tun, um Amerikas frühere Glorie wiederherzustellen.
In North Carolina tritt eine Kandidatin an, die des Versuchs angeklagt war, einem Ehemann mit einer Bratpfanne auf den Kopf zu hauen und ihn mit einem Auto zu überfahren. Auch soll sie ihre Tochter geschlagen und einen anderen Mann mit einem Wecker attackiert haben. Die schlagkräftige Politikerin dementiert alle Anschuldigungen, gelobt aber, falls gewählt, in Washington DC mit einer Bratpfanne aufzutauchen.
Ein Kandidat in Michigan, der einst das Frauenstimmrecht ablehnte, hat Hillary Clintons früherer Wahlkampfleiterin vorgeworfen, an einem satanischen Ritual teilgenommen zu haben. Obwohl selbst Afroamerikaner, zeigte er sich besorgt, die Demokraten würden «die weisse Bevölkerung erodieren». Einfallsreicher dagegen jener dritte Republikaner aus Ohio, Anhänger der Sekte QAnon und an 1/6 vor dem US-Capitol präsent, der den Rasen vor seinem Haus mit über 450 Litern Farbe in ein riesiges Trump-Banner verwandelt hat.
Gelingt solchen Kandidatinnen und Kandidaten der Einzug ins Abgeordnetenhaus, könnte sich die republikanische Parteiführung laut «Washington Post»-Kolumnist Dana Milbank mit einer Fraktion konfrontiert sehen, die mit Fakten nichts am Hut hat. Wie etwa jene Politikerin aus New Hampshire, die behauptet, dass «die angeblich existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel eine von Demokraten fabrizierte Krise» sei. Oder wie jene Republikanerin aus Virginia, der zufolge Schwangerschaften nach einer Vergewaltigung weniger wahrscheinlich sind, weil das nicht etwas sei, «was organisch passiert».
Eine solche Erscheinung könnte als mässig unterhaltsamen Akt in Amerikas Polit-Theater des Absurden abgetan werden. Wer das tut, riskiert aber zu unterschätzen, wie weit die republikanische Partei seit Donald Trump von einer zwar konservativen, aber seriösen Volksvertretung zu einer Fakten leugnenden Gruppierung am rechten Rand der Gesellschaft abgedriftet ist. Und nach wie vor ist möglich, dass Donald Trump, falls er – unberührt von mehreren Verfahren – 2024 erneut antritt, die Präsidentenwahl gewinnen wird. «Die Geschichte», schreibt Karl Marx in seiner Schrift «Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte», «wiederholt sich immer zweimal – das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.» Unterhaltsam wäre eine solche Farce mit Sicherheit nicht – weder für Amerika noch für die übrige Welt.