In Washington DC hat das republikanisch dominierte Repräsentantenhaus seine Arbeit aufgenommen. Wer glaubte, in der Grossen Kammer würde nach dem Theater um die Wahl ihres neuen Vorsitzenden Ruhe einkehren, sieht sich getäuscht. Neu sorgt ein weiterer Republikaner landesweit für negative Schlagzeilen.
«Only in America», ist einer versucht zu sagen, wer die Saga um den frisch gewählten Abgeordneten George Santos aus New Yorks 3. Kongresswahlbezirk verfolgt. Lokale Medien tun das akribisch und fast jeder Tag bringt neue Enthüllungen. Im Journalismus ist in solchen Fällen von einer Story die Rede, «die unaufhörlich gibt und gibt». Die Geschichte dreht sich um einen 34-jährigen Republikaner, der bei den US-Zwischenwahlen im vergangenen Herbst als Neuling ins amerikanische Abgeordnetenhaus gewählt worden ist. So weit, so gut.
Inzwischen aber hat sich aufgrund diverser Recherchen herausgestellt, dass George Santos ein pathologischer Lügner ist, der seinen Lebenslauf, seinen Bildungsweg und seinen Leistungsausweis wiederholt gefälscht hat, um wählbar zu werden. Die Lügen beginnen mit seinem Namen; in Wirklichkeit soll er ganz anders heissen. Sie setzen sich fort bezüglich seiner Berufstätigkeit. So will er etwa als Banker für Citigroup oder Goldman Sachs gearbeitet haben, während er in Realität Übersetzer an einem Kundenschalter war. Er gab auch an, er sei jüdischer Herkunft, was nicht stimmt, oder seine Mutter hätte 9/11 im World Trade Center überlebt, was ebenso wenig wahr ist.
2020 versteuerte George Santos ein jährliches Einkommen von 55’000 Dollar; zwei Jahre später, plötzlich mit einem stolzen Vermögen von 11 Millionen Dollar ausgestattet, lieh er seinem Wahlkampfteam 700’000 Dollar. Dese Woche ist bekannt geworden, dass Santos einen invaliden Armeeveteranen um 3’000 Dollar betrog, die dieser für die Behandlung seines krebskranken Hundes gesammelt hatte. Die Liste liesse sich fortsetzen, wofür auf der Online-Plattform «Substack» die Journalistin Marisa Kabas unter dem Titel «The Daily Santos» besorgt ist.
Noch aber ist der Abgeordnete George Santos in Washington DC in Amt und Würden. Mehrheitsführer Kevin McCarthy unternimmt keine Anstrengungen, den Kollegen aus der republikanischen Partei (GOP) loszuwerden: «Die Wählerinnen und Wähler haben ihn dazu bestimmt, zu dienen.» Dass sich Santos im Wahlkampf als sein Stabschef ausgab, kümmert McCarthy nicht. Auch nicht, dass 55 Prozent der Wählerschaft des 3. Kongresswahlbezirks, inklusive Republikaner, seinen Rücktritt fordern. McCarthy ist im Haus aufgrund der knappen Sitzmehrheit der GOP auf jede republikanische Stimme angewiesen.
«Die Leute, die gewählt haben, stimmten in Wirklichkeit nicht für ihn (Santos), sondern für die Illusion, die er kreierte», hat eine Gruppe besorgter Wählerinnen und Wähler auf Long Island verlauten lassen: «Die Wahl widerspiegelt nicht den Willen des Volkes.» Wobei die Frage unbeantwortet bleibt, auf welche Weise ein Republikaner wie George Santos in einem demokratisch dominierten Staat wie New York gewählt werden konnte. Vielleicht, weil er sich, wie der Fernsehkomiker Bill Maher auf HBO witzelte, als «mutiger, trauriger, stolzer und schwuler, halbschwarzer Latino und Holocaust-Opfer mit einem Hirntumor» ausgab.
Doch Kevin McCarthy, jüngst erst im 15. Wahlgang als Mehrheitsführer der Republikaner im US-Abgeordnetenhaus gewählt, lässt sich von der Kritik am Parteikollegen nicht beirren. Im Gegenteil – der Speaker hat Santos Einsitz in zwei Kommission des Hauses gewährt. So ist der in Brasilien als Betrüger polizeilich gesuchte und in den USA mehrfach wegen dubioser Businesspraktiken ins Visier der Justiz geratene Politiker jetzt Mitglied jener Kommission, die sich um kleine Geschäfte kümmert, sowie jenes Gremiums, das sich mit Wissenschaft, Raumfahrt und Technologie beschäftigt.
Was, wie ein Kolumnist der «Washington Post» findet, äusserst passend ist für jemanden, dessen Geschichten nicht von dieser Welt sind. Der britische Economist, «not amused», spricht von einer «nationalen Schande», dass jemand wie George Santos Amerikanerinnen und Amerikaner im Kongress repräsentiert. Ihn zu entfernen, selbst als rechtens Angeklagten oder Verurteilten, würde eine Zweidrittelmehrheit des Repräsentantenhauses erfordern, was in der jüngeren Geschichte erst zweimal der Fall war.
Doch McCarthys Wahnsinn hat Methode. Er lässt auch andere republikanische Abgeordnete in Kommissionen arbeiten, die nicht nur im jeweiligen Ausschuss, sondern auch im Repräsentantenhaus eigentlich nichts zu suchen hätten. So sitzt Marjorie Taylor Greene (Georgia) in jenem einflussreichen Gremium, dessen Aufgabe es ist, die jeweilige Regierung zu überwachen und bei Fehlern, Pannen und Skandalen zur Rechenschaft zu ziehen.
Greene ist jene Politikerin, die noch 2018 daran zweifelte, dass an 9/11 ein Flugzeug auch das Pentagon traf, die Schiessereien an Schulen für inszeniert hielt, um schärfere Waffengesetze erlassen zu können, die mutmasste, die Waldbrände in Kalifornien seien von einem Laser im Weltraum im Besitz der jüdischen Familie Rothschild entfacht worden, und die auch behauptete, der Sturm auf das US-Capitol an 6/1 wäre erfolgreich gewesen, hätten sie und der frühere Trump-Berater Stephen K. Bannon den Putschversuch inszeniert. Ihre einflussreiche Kommission wird unter anderem das Departement für innere Sicherheit beaufsichtigen.
Ob sich jedoch all die Konzessionen auszahlen werden, die Mehrheitsführer Kevin McCarthy gemacht hat, um den rechtsextremen Flügel seiner Partei zu befriedigen, darf bezweifelt werden. Denn noch mangelt es den Republikanern, wie bereits vor der Präsidentenwahl 2020, an einer politisch überzeugenden Agenda ausser dem Ziel, den Demokraten zu schaden, wo immer sie können. Dazu hat ihnen Präsident Joe Biden mit der Affäre um privat aufbewahrte Geheimdokumente aus der Ära Obama einen Steilpass gespielt, den der «New Yorker» nobel als «politischen Kunstfehler» taxiert.
Auch die Vorgänge rund um den Laptop von Bidens Sohn Hunter und die damit verknüpften Korruptionsvorwürfe sollen im Repräsentantenhaus nun näher beäugt werden. Vorläufig am Gravierendsten aber ist wohl Kevin McCarthys Versprechen, allenfalls Amerikas Schuldenobergrenze nicht anzuheben, um die Regierung in Washington DC zum Sparen zu zwingen – ein Entscheid, welcher der Wirtschaft auf nationaler und globaler Ebene schweren Schaden zufügen könnte, würde er tatsächlich getroffen. Matt Gaetz, der rechte Hardliner aus Florida, war zur Abwechslung ungewohnt ehrlich, als er sagte, er und seine republikanischen Mitstreiter im Haus hätten am Ende den Widerstand gegen McCarthys Wahl aufgegeben, «weil wir nicht mehr wussten, was wir von ihm noch fordern wollten».
So dürften denn Amerika politisch stürmische Zeiten bevorstehen. Dies mit einem angeschlagenen Präsidenten, geschwächten Demokraten, zerstrittenen Republikanern und einer verunsicherten Wirtschaft. Doch der Unterhaltungsfaktor der US-Politik ist, wenn auch aus falschen Gründen, nach wie vor gross, wie der Fall des Kongressabgeordneten George Santos aus New York zeigt.
Unter anderem war der Jungpolitiker für eine Investmentfirma tätig, der die amerikanische Finanzaufsicht (SEC) vorwirft, Kunden mittels eines Schneeballsystems betrogen zu haben. Zu den Geschädigten des «Ponzi Scheme» gehört laut SEC der Cousin eines sanktionierten russischen Oligarchen, der für Gorge Santos’ Wahlkämpfe selbst Geld gespendet hat. Der Kreis schliesst sich: «Only in America.»