Das Unwort des Jahres 2010, „alternativlos“, hat eine steile Karriere hinter sich. In nur sechs Jahren haben es Führungskräfte und Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft geschafft, mit dieser modisch-geschwätzigen Feststellung davon abzulenken, dass sie eigentlich nicht wissen, wie weiter.
Irren ist menschlich
Spätestens dann, wenn klar wird, dass der „Es-gibt-keine-Alternative-Entscheid“ falsch war – weil die angestrebten Ziele nicht erreicht wurden – müssten ehrliche Bekenntnisse den Boden ebnen für alternative Lösungen. Wenn nicht, werden unweigerlich „phantasielos, wirkungslos, verantwortungslos“ als Adjektive für jene Modelle und ihre „Erfinder“ herhalten müssen. Zeigt es sich nämlich, dass Märkte und Menschen ganz anders reagierten, als (vom Erfinder) beabsichtigt, wird es kritisch. Aktuellstes Beispiel ist die ultraexpansive Geldpolitik der Notenbanken, die seit mehreren Jahren gnadenlos durchgepeitscht wird.
Irren ist menschlich. Niemand macht keine Fehler. Problematisch wird es, wenn Entscheide nicht zurückgenommen werden, sobald sie sich als kontraproduktiv erweisen. Oder anders gesagt: Sind die Nebenwirkungen des Medikaments gravierender als der Heilungseffekt der zu bekämpfenden Krankheit, wird die Behandlung üblicherweise abgesetzt. Seit wir im Juli 2016 gehört haben, dass erstmals Kreditnehmer (Hypothekarschuldner in diesem Fall) für den Betrag ihrer Verschuldung vom Kreditinstitut mit einem Zins belohnt werden, statt Hypo-Zins zu bezahlen, dürfte es weitherum neben Kopfschütteln auch immer lauter werdende Warnrufe absetzen: Wer soll diese Verrücktheit dereinst bezahlen?
Tatsächlich ist die Idee der Notenbanken, mit der Gelddruckpresse das Wachstum der Märkte erzwingen zu wollen, grossartig gescheitert. Viele Unternehmen nutzen diese Geldschwemme dazu, kreditfinanzierte Aktienrückkaufprogramme zu lancieren mit dem Ziel, ihren eigenen Aktienkurs nach oben zu treiben. Geradezu alarmierend sind auch neueste Publikumserhebungen: Statt mehr Geld auszugeben, um die Konjunktur anzukurbeln und Wachstum zu generieren, haben weite Bevölkerungskreise längst das Vertrauen ins System verloren. Sie sparen wie nie seit 2008 und verstärken damit die konjunkturelle Abwärtsbewegung. Statt Probleme zu lösen, garantieren die falschen Rezepte zurzeit den Fortbestand des Problems. Dies kommt einer Bankrotterklärung der „alternativlosen“ Rettungsaktion gleich.
Mehr desselben
Nachdem es sich also zeigt, dass die Zinssenkungen der Zentralbanken wirkungslos verpuffen, herrscht Alarmstufe eins. Es soll dabei keineswegs bestritten werden, dass die Idee anfänglich vielerorts auf Zustimmung stiess. Nur das mutige Eingreifen der Notenbanken hat 2008 eine Weltwirtschaftskrise wie 1930 verhindert. Doch seit mit den Jahren und ausbleibenden Erfolgserlebnissen die US-Notenbank und die EZB (Europäische Zentralbank) die Leitzinsen senkten und senkten um den gewünschten Effekt mit der Brechstange zu erzwingen, bestätigt sich Watzlawicks Warnung: Mehr desselben ist fast immer das falsche Rezept.
SNB
Die Schweizerische Nationalbank (SNB) mit einem Negativzins von aktuell 0.75% auf Giroguthaben ist in einer fast aussichtlosen Lage. Einerseits kann sie die Entscheide ihrer grossen Schwestern (FED und EZB) nicht ignorieren. Andererseits muss sie ein Erstarken des Schweizer Frankens verhindern, um unsere Exportindustrie und Garant des helvetischen Wohlstands nicht zu gefährden. Ob die positiven Effekte dieser Negativzinsen die negativen Auswirkungen überwiegen – wie die SNB Ende August wieder verkündete – das Fragezeichen wird immer grösser. Denn die Anzeichen mehren sich, dass der andauernde Sinkflug der Zinsen immer gravierendere Nebenwirkungen zeitigt. „Lesen Sie die Packungsbeilage“ heisst hier im Klartext, dass unseren staatlichen und privaten Vorsorgeeinrichtungen die Zinseinnahmen wegfallen und damit die ambitiöse Zielsetzung sicherer Renten in weite Ferne rückt. Es bahnt sich ein eigentliches Desaster an.
Die Falschen bestraft, die Falschen belohnt
Um die internationale Finanzkrise nach 2008 zu bekämpfen, haben die Notenbanken also die Flucht nach vorn angetreten. Der drastische Sinneswandel der Verantwortlichen hat gleichzeitig der früheren internationalen Geldpolitik das Fundament weggespült. Die sich jetzt immer deutlicher bemerkbar machenden Folgen: Ein erprobtes marktwirtschaftliches Prinzip wird ausgehebelt, die Sparer aller Nationen werden bestraft, dafür das Leben auf Pump und die Konsumwut gefördert und belohnt. Dies ist ein geradezu lehrbuchmässiges Beispiel der Auswirkungen falscher Anreize.
Dazu passt die Medienmitteilung, dass einzelne Kantone und Städte in der Schweiz neuerdings für Kreditaufnahmen mit einem Zins belohnt werden und somit stolz verkünden können, sie hätten bei dieser Übung „verdient“.
Speziell der Altersvorsorge in der Schweiz bläst ein rauer Wind entgegen. Mit Renditen von null bis knapp zwei Prozent lassen sich die grosszügigen Renten nicht finanzieren.
Arbeitnehmer sind gut beraten, wenn sie sich schon mal ein Bild machen, was das heissen wird: Niedrigere Renten? Höhere Sparbeiträge? Länger arbeiten? Auf bessere Zeiten hoffen? Die Perspektiven sind nicht rosig.
Bedenkt man, dass in unserem Land in den Vorsorgewerken beinahe die Hälfte aller Haushaltersparnisse angelegt ist, wird es eng. Die Entpolitisierung und Senkung des BVG-Umwandlungssatzes ist ebenso dringend wie die von gewerkschaftlicher Seite geforderte Rentenerhöhung völlig fehl am Platz ist. Schon heute ist der Generationenvertrag zwischen aktiver und passiver Bevölkerung angekratzt. Es wäre fatal, auf dem Buckel der Jüngeren die jetzigen Rentenbezüger noch zusätzlich zu bevorteilen.
Wo Schuldenberge sich erheben
Wenn als Folge dieser Zinssituation die Schulden weltweit zunehmen und dieser Zustand je länger je mehr als normal interpretiert wird, kommt das der Ruhe vor dem Sturm gleich. So warnen Experten in der NZZ am Sonntag vor einer Schuldenwelle, die uns – früher oder später? – überrollen werde. Der Ökonom Harald Preissler meint da etwas resigniert: „Das Verderben wird kommen, vielleicht nicht morgen, sondern erst in 10 bis 15 Jahren.“ Tobias Straumann, unser Wirtschaftshistoriker (Uni Zürich u. a.), sieht drastische Konsequenzen und einschneidende Massnahmen am Horizont aufziehen: „Eine massive Erhöhung von Gebühren und Steuern, die Einführung von Kapitalkontrollen und dass auch Rentner zur Sanierung der Sozialversicherungen herangezogen werden.“
In der EU helfen angekündigte Sanierungsmassnahmen der EU-Staaten wenig, wenn – wie Erfahrung zeigt – die Sanierungsziele und Verschuldungsgrenzen staatenweit und konstant verpasst oder ignoriert werden. Und natürlich: Die USA gehen mit dem schlechten Beispiel voran: Mit 104% des BIP ist die Situation dort noch gravierender als in der EU mit vergleichsweise 89% – Rang eins dieser unrühmlichen Klassifizierung hält Japan mit 229%.
Die nächste Bankenkrise?
Die Aktienkurse der Grossbanken tendieren abwärts, seit einiger Zeit. Widerspiegelt diese Entwicklung das grosse Misstrauen der Investoren gegenüber einem System, das auch acht Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise nicht wirklich saniert wurde? Eben noch versprachen Europas Regierungen ihren Bürgern, sie müssten nie mehr für die Eskapaden der Banker einstehen – schon kracht es wieder im Gebälk der ältesten Bank Italien und es zeichnet sich ab, dass der Staat erneut zur Rettung aufgeboten werden wird. Ist dies ein Indiz dafür, dass Europas Staaten und Banken nicht lernfähig sind? Auch diesmal werden die illusorischen Regeln selbst zum Problem. Und auch damals (in Griechenland als Beispiel) wurde die staatliche Rettungsaktion als „alternativlos“ bezeichnet. Dieses System ist todkrank. Zuerst kassieren die Falschen Hilfegelder, damit sichern sich Top-Banker und -Politiker ihre Macht. Am Ende der Tragödie bezahlt – die Allgemeinheit.
Um nochmals Tobias Straumann (in der NZZ) sprechen zu lassen: „Finanzkrisen beruhen auf einem ganz banalen Mechanismus. Sie entstehen dadurch, dass sich innerhalb weniger Jahre eine hohe Verschuldung aufbaut, und sie brechen aus, sobald der Schuldner in Zahlungsengpässe gerät.“ Straumann schliesst seinen ausführlichen, historischen Bericht, indem er Jacob Burckhardt in dessen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ zitiert: „Wir wollen durch Erfahrung nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer) werden.“ Wollen wir wirklich?
Worauf warten wir?
Es ist, nach alldem, eigentlich verwunderlich, dass das Volk nicht europaweit aufsteht und die ordnungspolitischen Ungereimtheiten endlich thematisiert. Da werden die Gewinne und Boni der Banker privatisiert, während gleichzeitig die riesigen Verluste sozialisiert werden. Jahr für Jahr. Ohne Anzeichen auf Einsicht oder Besserung. Dies ist die eine Hälfte des Unerklärlichen.
Die andere: Während die Nebenwirkungen der Negativzinsen allmählich realisiert und die Kleinsparer enteignet werden, steigt die Unsicherheit und wird ein bewährtes System ausgehebelt, der Geldkreislauf empfindlich gestört. Wäre es nicht an der Zeit – etwa mit einer globalen Initiative – gegen diese Negativzinspolitik anzutreten? Würden alle Staaten gleichzeitig das Zinsniveau um 1.5 Prozent erhöhen, hätte dies keine Wechselkursverwerfungen zur Folge. Doch eben, Partikularinteressen verhindern solche naiven Vorstellungen, lieber ersinnt man immer neue Gesetze und Richtlinien, die anschliessen ignoriert oder gebrochen werden.
Aus dieser Optik ist die „alternativlose“ Taktik der Notenbanken, den Regierungen auf diese Weise Zeit für Reformen einzuräumen, kläglich gescheitert. Statt solche Reformen anzupacken, wachsen die staatlichen Defizite, alles wie gehabt, schon lange vor Ausbruch der Finanzkrise 2008.