Nicht zum ersten Mal empfiehlt der Westschweizer Ingenieur und Transportinfrastruktur-Fachmann Rodolphe Weibel in diversen Medien den Umbau des alten Gotthardbahntunnels Göschenen–Airolo in eine zweite Strassenröhre. Bei der Lösung des Bundesrates, nimmt er an, wäre der "historische" Bahntunnel verlassen, nutzlos, gefährlich. Seine Idee präsentiert der Autor als Ei des Kolumbus, auch wenn er diesen Ausdruck nicht selber verwendet.
Kein Ei des Kolumbus
Der Scheiteltunnel entspreche in keiner Weise den heutigen Sicherheitsnormen, erklärt Rodolphe Weibel. Tatsache ist jedoch, dass laut SBB Historic im Eisenbahntunnel seit seiner Eröffnung im Jahre 1882 noch nie Reisende umgekommen oder schwer verletzt worden sind – eine Sicherheit, von dem die Befürworter einer weiteren Strassenröhre nicht einmal träumen können.
Die Zeit für einen Ausflug nach Kandersteg an der alten Lötschbergstrecke hat der Initiant des Umbau-Vorschlags offenbar nicht gefunden. Sonst hätte er trotz überdimensionierten Lärmschutzwänden einen selbst ohne den Autoverlad alles andere als verlassenen und nutzlosen Bahnhof und Scheiteltunnel erkannt. Angesichts der enormen Schwankungen je nach Jahreszeit, Wochentag und Stunde genügt ein einmaliger Besuch allerdings bei weitem nicht, um sich einen repräsentativen Überblick zu verschaffen.
Erinnerung an das „Wort des Jahres 2013"
Zur Annahme, den ersten Gotthardbahntunnel einem neuen Verwendungszweck zuführen zu können, hat den Westschweizer Ingenieur anscheinend eine unbedachte Äusserung des Leiters von SBB Cargo bewogen, wonach die Gotthard-Berglinie nach Eröffnung des Basistunnels nie mehr von Güterzügen befahren werde. Der SBB-Pressedienst distanziert sich davon indirekt mit der Feststellung, dass eine solche Ankündigung in Form einer Medienmitteilung nicht erfolgt sei. Mit der Inbetriebnahme des neuen Tunnels werde der bisherige Fern- und Güterverkehr durch den Gotthard-Scheiteltunnel "weitgehend" wegfallen.
Aufgrund der Erfahrungen liegt die Frage nahe, wie oft die Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist vor allem seit der Einführung der Zugsicherung European Train Control System (ETCS) unterbrochen gewesen sei und wie viele Sperrstunden dies kumuliert ergeben habe. Die SBB antworten, dass jährlich rund 40 Unterhaltsnächte in der Regel am Wochenende stattfänden, mit Umleitungen über die alte Stammstrecke via Burgdorf–Langenthal. Pannen und Störungen erwähnt die Antwort keine, als ob solche nicht vorkämen. Bahnreisende wissen, dass sich dies in der Realität ziemlich anders verhält, zumal "Stellwerkstörung" 2013 zum "Wort des Jahres" avancierte, bis die SBB, offenbar enerviert, die harmlosere Umschreibung "Technische Störung an der Bahnanlage" erfanden.
Genaue Schätzung der Verkehrsentwicklung unmöglich
Eine detaillierte Übersicht zu unvorhergesehenen Sperrungen auf der Neubaustrecke sei nicht verfügbar, bedauern die SBB. "Nicht verfügbar" heisst hoffentlich nicht, dass sie nicht existiere. Die Diskretion dürfte auch darauf beruhen, dass die Gotthard-Bergstrecke weiter unterhalten werden muss und dass die SBB einen umso grösseren Teil dieser Kosten tragen müssen, je mehr sie die alte Linie als Ausweichstrecke benötigen.
Eine Prognose des Ausmasses dieser Funktion ist so wenig möglich wie eine genaue Schätzung der Verkehrsentwicklung. Sicher ist nur, dass der moderne, ferngesteuerte Bahnbetrieb und der teilweise zu sparsame Unterhalt des Rollmaterials wie auch der festen Anlagen zu unliebsamen Vorkommnissen bis hin zu steckengebliebenen Zügen führen, die aus dem längsten Tunnel der Welt nicht rasch herauszuholen sein werden.
Das Gleis der Gegenrichtung, auf das in den Drittelspunkten des Tunnels ausgewichen werden kann, wird nur bei schwachem Verkehr verfügbar sein. In allen anderen Fällen kommt, wie am Lötschberg und bei Mattstetten–Rothrist, die alte Strecke ins Spiel, für die ein Intercity-Zug rund eine Stunde mehr Zeit benötigt und die auch einem langen, aber leichten Güterzug (beispielsweise mit neuen Autos) dienen könnte.
Die Bahn braucht den alten Tunnel
Als Hauptaufgabe muss die Bergstrecke die in Aussicht gestellte touristische Zugsverbindung im Stundentakt, selbstverständlich auch durch den Scheiteltunnel, anbieten. Dass sie nicht mehr vorsorglich unterhalten, sondern nur noch von Fall zu Fall repariert werde, wie Rodolphe Weibel eine weitere, nicht zu Ende gedachte Äusserung eines SBB-Chefs zitiert, kann deshalb nicht in Frage kommen. Von einem Abbau auf Einspur, der sich in anderen Ländern selten bewährte, ist glücklicherweise kaum mehr die Rede.
Der Eisenbahn-Scheiteltunnel steht dem Autoverkehr als Verladetunnel und günstige Alternative zur zweiten Strassenröhre zur Verfügung. Die Bahn braucht ihn weiterhin. Ein stabilerer SBB-Betrieb erfordert nicht weniger, sondern einzelne zusätzliche Ausweichrouten, wie eine direkte Linie aus dem Raum Olten nach Zürich und die oberirdische Vierspur nach Winterthur.