Treten im gesellschaftlichen Leben bedrohliche Situationen ein, die sofortige Reaktionen, schnelles Handeln verlangen, sind Politiker, besonders die exekutiv tätigen, gefragt. Sie stehen im Rampenlicht, müssen an- und verordnen. Gerne suchen sie in solchen Zeiten nach einfachen, allgemein verständlichen Begriffen, mit denen sich, ihrer Meinung nach, komplexe Sachverhalte erklären, verängstigte Bürgerinnen und Bürger beruhigen lassen.
Etwas Komplexeres als die Corona-Krise ist kaum denkbar. Je länger sie währt, umso unübersichtlicher wird sie. In jeder Beziehung. Ursachen und Folgen der Krise, vermuteter, berechneter, prophezeiter Verlauf, wirksame und untaugliche Verhaltensmassregeln, um ihr zu begegnen – das alles wird uns täglich vorgeführt und vorgerechnet, mit Meinungen versehen, mit Widersprüchen gewürzt.
Deutsche und inzwischen auch nicht wenige Schweizer Politiker haben sich etwas einfallen lassen, um die Situation, in der wir uns befinden, zu charakterisieren: sie sprechen von der alten Normalität, womit sie die Zeit vor Corona meinen, und von der neuen Normalität, auf die man sich einzustellen habe.
An dieser zweigeteilten Formulierung, die einen Vorher–Nachher-Zustand beschreiben soll, hält kaum etwas einer näheren Begutachtung stand. Was heisst schon «normal»? Gibt es nicht, für jeden, zahllose Tatsachen, Umstände, die früher normal waren und irgendeinmal keine Gültigkeit mehr hatten?
Und umgekehrt? Einst Unvorstellbares, das zur Norm wird? Was die neue Normalität angeht: genügt ein bisschen mehr Händewaschen, Abstandhalten, Küsschenabstinenz, gelegentliche Maskerade, um eine neue Normalität zu proklamieren? Eher nicht. Niemand weiss heute, ob und wie wir dereinst aus der Pandemie herauskommen. Und niemand kann uns zuverlässig sagen, welche alten Normen wir aufgeben oder wiederbeleben sollen, welche neuen wir uns zukünftig zulegen werden. Wahrscheinlich sollte der Verweis auf alte und neue Normalität beruhigend und beschwichtigend wirken. Aber tut er das wirklich?