In der einstigen Missionsstation am Xingú kumulieren sich die Effekte sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Fehlentwicklungen. Entwurzelung der autochthonen Bevölkerung, brennender Regenwald, verödete Landstriche und ein verelendetes Lumpenproletariat sind die Folgen.
Im Zeitalter des klimatischen Zusammenbruchs bildet Amazonien das Zentrum der Welt; dies zumindest sagt die renommierte brasilianische Journalistin Eliane Brum. Folgt man ihrer Argumentation, so ist Altamira die ungekrönte Hauptstadt des tropischen Flussbeckens: eine gesichtslose Ansiedlung im Gliedstaat Pará, in der vor fünfzig Jahren der Grundstein zur Transamazônica gelegt wurde und die heute im Schatten des Belo-Monte-Staudamms nach ihrer Zukunft sucht.
Hat die Stadt ihre zweifelhafte Reputation verdient? Eine jüngst erfolgte Einladung an das lokale Literaturfestival «Festa Literária Internacional do Xingú» – ein diskretes Kulturereignis, welches das Modell der literarischen Messen von Rio und São Paulo in den Norden zu transponieren versucht – ermöglichte einen Augenschein.
Aus dem Lot geratene Entwicklung
Gegründet wurde der Ort von Jesuiten, die im 17. Jahrhundert an einer Schleife des Rio Xingú eine Mission etablierten. Nachdem der religiöse Orden vom damaligen portugiesischen Premierminister Marquês de Pombal 1759 aus seinem Machtbereich vertrieben wurde, erhielt die ehemalige «Missão Tavaquara» 1883 ihren aktuellen Namen – eine Initiative eines lokalen «Unternehmers» und ehemaligen Sklavenhändlers, der sich während einer Spanienreise von den Höhlenmalereien von Altamira überwältigen liess. 1912 wurde der hundert Häuser zählende Marktflecken zum Zentrum einer politischen Gemeinde erklärt, deren Fläche mit 160’000 km2 knapp der doppelten Grösse von Österreich entspricht.
Kontraste und Missverständnisse prägen das Bild Amazoniens bis heute. Der bittere, trockene Geruch der Brandrodungen irritiert den Gaumen, sobald man aus dem Flugzeug steigt, der Asphalt auf den schachbrettartig angelegten Strassen zerfliesst unter der Mittagshitze. Einzig am Flussufer sind spärliche Versuche unternommen worden, der Bevölkerung mittels jüngst gepflanzter Setzlinge in Zukunft zu etwas Schatten zu verhelfen.
Lokale Viehzucht und Kakaoplantagen generieren einen höheren Umsatz als der Fischexport, obwohl der Xingú zu den wichtigsten Amazonas-Zuläufen zählt. Der Blick auf die Statistiken ist vielleicht noch entmutigender: Die Mordraten Altamiras sprengen sämtliche Massstäbe. 2019 wurde das Stadtgefängnis zum Schauplatz einer Gewaltorgie, die Erinnerungen an das 1992 erfolgte Massaker in der Strafanstalt Carandirú wachriefen.
Es sind diese Symptome einer aus dem Lot geratenen Entwicklung, die Eliane Brums Diagnose in einem interessanten Licht erscheinen lässt. 2017 hatte die Journalistin und Autorin von «Banzeiro Òkòtó» (Companhia das letras, 2021, nicht übersetzt) den Komfort von São Paulo hinter sich gelassen und ist ins knapp dreitausend Kilometer nördlich gelegene Altamira gezogen, um ihre Reportagen – präzis dokumentierte Berichte von Landraub und Zerstörung von Lebensraum – fortan vor Ort zu verfassen. Die Stadt, so meint sie im knapp zweistündigen Gespräch, liegt im Epizentrum einer sozialen und ökologischen Katastrophe, deren Konsequenzen weit über Amazonien hinaus spürbar sein werden.
Ökologischer Raubbau und soziale Implosion
Tatsächlich erweist sich der in den 2010er Jahren gebaute Belo-Monte-Staudamm allenfalls als jüngster Ausdruck des ökologischen Raubbaus, der das 20. Jahrhundert wie ein schwarzer Faden durchzieht. Knapp zehn Kilometer ausserhalb Altamiras, unter einer Starkstromleitung, steht ein von trockenem Gras umwachsener Nussbaumstrunk, einen guten Meter hoch und von einer Stahltafel flankiert: «An diesen Ufern des Xingú», ist dem Text zu entnehmen, hatte der Präsident des brasilianischen Militärregimes Emilio Garrastazu Médici am 9. Oktober 1970 mit dem Bau der Transamazônica begonnen und somit die «Kolonisierung und die Eroberung dieser gigantischen grünen Welt» eingeleitet.
Mittlerweile haben sich an der Verkehrsachse, die den Bundesstaat Amazonas mit dem fünftausend Kilometer entfernten Atlantik verbindet, zahllose Querstrassen gebildet, die fischgräteförmig in den umliegenden Urwald hineinragen. Das staatliche Versprechen, «Menschen ohne Land ein Land ohne Menschen» zu erschliessen, hatte hunderttausende Siedler aus dem Süden angezogen. Allein die Bevölkerung von Altamira hat sich seit den 1960er Jahren von 3000 auf über 120’000 Einwohner vervielfacht — dies jedoch nicht zuletzt, weil das Bild des unbewohnten Amazoniens auch damals keineswegs der Wirklichkeit entsprach.
Neben der autochthonen Bevölkerung der Umgebung Altamiras, die gemäss einer Studie der Bundesuniversität von Rio aus über zwei Dutzend Ethnien besteht, war die Region auch von den Nachfahren der Lohnarbeiter der Latexökonomie bewohnt, die während der vorherigen Jahrhundertwende vor den Dürrekatastrophen im Nordosten Brasiliens in den Tropenwald geflüchtet waren, um sich unter an Leibeigenschaft grenzenden Arbeitsbedingungen von den Gummibaronen verpflichten zu lassen. Der Kreuzweg der Arbeiter, die in der Misere des Äquators «ihrer Berufung entsprechend zu verschwinden» pflegten, hatte seinerzeit bereits der brasilianische Autor Euclides da Cunha (1866–1909) eloquent denunziert.
Auch die von da Cunha formulierte Diagnose, dass in Amazonien alles «widersprüchlich, prekär und kurzlebig» sei, hat sich im letzten Jahrhundert zunehmend bewahrheitet. Am beeindruckendsten illustrierte dies wohl Henry Fords gescheiterter Versuch, 1927 am Ufer des Rio Tapajos eine zehntausend Quadratkilometer grosse Gummiplantage anzubauen, um seine Ford-T-Modelle mit in Eigenproduktion hergestellten Reifen ausrüsten zu können. Nach einer Revolte der Belegschaft und einer Pilzepidemie, die den Baumbestand dezimierte, musste das Experiment nach knapp zwanzig Jahren abgebrochen werden.
In Altamira hat der Bau des Belo-Monte-Wasserkraftwerks in erster Linie eine zivilisatorische Ruine hinterlassen. Der Staudamm, in den Siebzigerjahren während der Militärdiktatur auf dem Reissbrett konzipiert und ein halbes Jahrhundert später unter Dilma Rousseff im Rahmen des «Programms für beschleunigtes Wachstum» realisiert, hat die an den Ufern gebauten Pfahlbauten überflutet und zehntausende Anwohner zum Umzug in die sogenannten «kollektiven urbanen Ansiedlungen» gezwungen, die heute den Stadtrand säumen. Die Fernstrasse, die zum Wasserwerk führt, ist beidseitig von verwahrlostem Weideland gesäumt, auf dem magere Kühe stehen. Rauchwolken hängen über den kahlen Hügeln, auf denen sich vereinzelte Höfe und staubige Palmen abzeichnen.
Für die Flussbevölkerung, oftmals nur rudimentär alphabetisiert und in der Regel von Subsistenzwirtschaft lebend, hat sich der Absturz ins städtische Lumpenproletariat als eine Katastrophe erwiesen. Kinder, meist Fischerfamilien entstammend, sehen sich mit einer von Drogen und Waffen geprägten Umwelt konfrontiert; Brum berichtet von Yanomami-Teenagern, die nach zwei Jahren Stadtaufenthalt zu Alkoholikern werden und ihre Schwestern prostituieren. Auch die Suizidrate unter den Heranwachsenden, die die nationalen Zahlen beinahe ums Dreifache übersteigt, illustriert drastisch, wie ausweglos die Gegenwart von der städtischen Jugend wahrgenommen wird.
Die spektakuläre Symmetrie von sozialer Implosion und unaufhaltsamem «Ökozid» verleiht Altamira tatsächlich eine wenig beneidenswerte Aura. Was tun angesichts der «sich überschlagenden Klimakrise» ist eine Frage, der sich heute neben Eliane Brum immerhin auch andere Autorinnen und Autoren stellen. Romanschriftsteller, aber auch Ethnologen und Journalisten wie João Moreira Salles («Arrabalde», Companhia das Letras, 2022), Joca Reiners Terron («A Morte e o metero», Todavia, 2019) und Aparecida Vilaça («Paletó e eu», Todavia, 2018) haben in den letzten Jahren teils persönliche, teils fiktive oder selbst dystopisch überhöhte Publikationen vorgelegt, deren Echo im brasilianischen Kulturraum von einer erhöhten Hellhörigkeit gegenüber Amazonien zeugt.
Für Eliane Brum liegt die Antwort im beruflichen Engagement: Mit der dreisprachigen Internetplattform «sumauma.com» (portugiesisch, englisch und spanisch), 2022 gegründet, versucht sie den von lokalen Journalisten verfassten Reportagen mehr Gehör zu verschaffen – in der Hoffnung, im Lauf der nächsten Jahre nicht mehr benötigt und vom Kollektiv «hinausgeworfen» zu werden. Auf neue Stimmen zu hören ist für sie vermutlich ein ethischer Imperativ, und ihre Haltung entspricht einer tiefen Überzeugung. «Wir müssen uns an der indigenen Bevölkerung orientieren», zitiert sie den Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro, «sie sind Spezialisten, was den Weltuntergang anbelangt: Ihre Welt ging bereits vor fünf Jahrhunderten unter.»