John Adams (1735–1826), Amerikas erster zweiter Mann, nannte die Vizepräsidentschaft «das unbedeutendste Amt, das die Menschheit je erfunden oder ihre Vorstellungskraft je ausgedacht hat». Der Texaner John Nance Garner (1868–1967), der 32. Vizepräsident der Vereinigten Staaten und als «Cactus Jack» bekannt, sagte gar einmal, das Amt sei «kein Kübel warmer Spucke wert».
Für die Besetzung eines Amtes, das angeblich so unwichtig ist, hat der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden einen grossen Aufwand betrieben, bis er Anfang Woche Senatorin Kamala Harris (Kalifornien) zu seiner Vizepräsidentschaftskandidatin erkor. Am Ende wählte Biden mit Hilfe von drei Beratern und Dutzenden von Juristen Harris aus dem engeren Kreis von elf Kandidatinnen aus.
Eine der Favoritinnen
Die Berater, alle frühere Mitarbeitende der Regierung von Barack Obama, beaufsichtigten pro Kandidatin ein Team von 12 bis 15 Anwälten, die jede in Frage kommende Politikerin interviewten sowie auf Herz und Nieren prüften. Doch den endgültigen Entscheid traf Joe Biden nach Absprache mit seiner Familie. «Vizepräsident Bidens Fokus war von Anfang an, wer als Partner in der Regierung am geeignetsten wäre, um ihm zu helfen, unser Land aus dem Chaos zu führen, das Donald Trump angerichtet hat», teilten führende Wahlkampfleiter des Kandidaten mit.
Zwar war die 55-jährige Kamala Harris schon seit längerem als Favoritin für die Kandidatur gehandelt worden. Selbstverständlich aber ist ihre Wahl trotzdem nicht, war sie doch vor einem Jahr in einer Fernsehdebatte Joe Biden noch arg an den Karren gefahren und hatte damit, wie Vertreter des demokratischen Parteiestablishments warnten, dessen Wahlchancen erheblich gemindert.
Die schwarze Politikerin, in Oakland als Tochter eines jamaikanischen Vaters und einer alleinerziehenden indischen Mutter aufgewachsen, griff Biden wegen seiner zögerlichen Einstellung zu Fragen der Rassenintegration an. «Ich glaube nicht, dass sie ein Rassist sind», sagte sie jedoch ausdrücklich. Und Biden trug es ihr auch nicht nach.
Eine geübte Rhetorikerin
Als frühere Distriktstaatsanwältin der Stadt San Francisco und einstige Generalstaatsanwältin des Staates Kalifornien ist Kamala Harris eine hartgesottene Befragerin und geübte Debattiererin, was auch Donald Trumps Vize Mike Pence bei der nationalen Fernsehdebatte am 7. Oktober in Salt Lake City zu spüren bekommen dürfte. Ihre Erfahrung als Strafverfolgerin, obwohl nicht unumstritten, dürfte sie gegen Vorwürfe des US-Präsidenten immunisieren, nicht genug für «Recht und Ordnung» zu tun, ein Thema, das Donald Trump nach landesweiten Protesten gegen die Ermordung des Schwarzen George Floyd für seinen Wahlkampf instrumentalisiert hat.
Kamala Harris ist in der 244-jährigen Geschichte Amerikas die erste Farbige, die für eines der höchsten Ämter im Staate kandidiert und nach Geraldine Ferraro und Sarah Palin die dritte Frau, die sich um die Vizepräsidentschaft bewirbt. Falls der 78-jährige Joe Biden gewählt wird und angesichts seines vorgerückten Alters keine zweite Amtszeit anstrebt, könnte Kamala Harris 2024 nach Hillary Clinton die zweite Amerikanerin werden, die Präsidentin werden will – was ihre Wahl als Vize umso bedeutender macht.
Eine Politikerin im Zentrum
Wie Biden sieht sich Harris im Zentrum der demokratischen Partei, wenngleich ihre politischen Positionen, wie ihr kurzlebiger Präsidentschaftswahlkampf 2019 zeigte, mitunter noch etwas schwammig und nicht widerspruchsfrei sind, so zum Beispiel was Themen wie eine Krankenversicherung für alle oder höhere Steuern für Reiche betrifft, die Parteilinken am Herzen liegen.
Als Präsidentschaftskandidatin hat sich Kamala Harris für Lohngleichheit in Betrieben, für staatliche Unterstützung der Einzelstaaten bei der Verfolgung in Fällen von Vergewaltigung und für mehr Macht des US-Justizministeriums bei der Überwachung der Gesetzgebung von Einzelstaaten in Sachen Abtreibung ausgesprochen. Zu ihren Anliegen zählten auch erleichterte Einwanderung, höhere Löhne für Lehrerinnen und Lehrer öffentlicher Schulen, schärfere Waffengesetze, Steuererleichterungen für Mieterinnen und Mieter sowie Darlehen für Hauskäufer, die Minderheiten angehören.
Eine Pragmatikerin, keine Ideologin
Doch Kamala Harris sei keine Ideologin, sagen Leute aus ihrem Umfeld übereinstimmend. «Ich versuche nicht, die Gesellschaft umzukrempeln», sagt die Kandidatin selbst: «Ich versuche einfach, mich um Dinge zu kümmern, welche die Leute nachts wachhalten.» Ihre politische Agenda, sagte Harris 2019, sei eine realistische Reihe von Versprechen, die gewöhnlichen Leuten helfen würden: «Politik muss relevant sein. Das ist mein Leitprinzip. Nicht: ‘Ist das ein schönes Gedicht?’»
Nach Ansicht von Donald Trumps Wahlkampfmaschine ist Kamala Harris jedoch «die liberalste linke Kandidatin oder der liberalste linke Kandidat, die oder der sich je um die Vizepräsidentschaft beworben hat». Innert Minuten nach Bekanntgabe ihrer Ernennung lancierten Mitarbeitende des Präsidenten einen aggressiven Wahlspot, gefolgt von einer Pressekonferenz und einer Flut von E-Mails. «Joe Biden und Kamala Harris würden Amerika zerstören», lautete der Titel eines Schreibens. «Sie ist eine Person, die viele, viele Geschichten erzählt hat, die nicht stimmen», sagte ausgerechnet Donald Trump gegenüber Reportern im Weissen Haus, jener Präsident, der laut der «Washington Post» in seiner bisherigen Amtszeit mehr als 20’000 falsche oder irreführende Aussagen gemacht hat.
Eine Kämpferin für Frauenrechte
Trump nannte Harris auch «sehr, sehr böse», wie er das auch im Fall von Hillary Clinton wiederholt getan hat. Die Kandidatin hatte es gewagt, bei der Anhörung im Senat den konservativen Richter Brett Kavanaugh, den Kandidaten des Weissen Haues für den Obersten Gerichtshof in Washington D. C., hart zum Thema Abtreibung zu befragen: «Fallen Ihnen irgendwelche Gesetze ein, welche der Regierung Verfügungsgewalt über den männlichen Körper verleihen?» Ohne das näher zu begründen, warf der US-Präsident Kamala Harris ausserdem vor, sie würde sich für höhere Steuern und «sozialisierte Medizin» einsetzten und sie wolle das Militärbudget zusammenstreichen sowie das Fördern von Schieferöl verbieten.
Es sind Bemerkungen, die verwundern angesichts der Tatsache, dass Donald Trump und seine Tochter Ivanka Kamala Harris noch Geld gespendet haben, als sie als Generalstaatsanwältin Kaliforniens kandidierte. Und noch vor zwei Wochen hatte der Präsident auf die Frage eines Reporters, was er von der Demokratin als Vizepräsidentschaftskandidatin halte, geantwortet: «Ich glaube, sie wäre eine gute Wahl, Kamala Harris. Sie wäre eine gute Wahl.»
Ein Stimmenmagnet
Ganz anders das aktuelle Echo auf dem Fernsehsender Fox News, wo sich eines von Trumps Sprachrohren, der Moderator Sean Hannity, zur Behauptung verstieg, Kamala Harris verfüge über einen «radikal-extremistischen Leistungsausweis», der «schrecklich» sei: «Die Wahl von Kamala Harris bedeutet die radikalste, extremste und vom Mainstream abweichendste Kandidatur irgend einer grösseren Partei in der amerikanischen Geschichte.» Moderatorin Laura Ingraham indes liess durchblicken, dass wohl ausser Zweifel stehe, wer im Weissen Haus das Sagen haben werde, sollte Joe Biden die Präsidentenwahl gewinnen.
Kein Kriterium für die Kür von Kamala Harris ist wohl der Umstand gewesen, dass sie aufgrund ihrer Herkunft Joe Biden am 3. November helfen könnte, in «swing states», d. h. wahlentscheidenden Staaten zu gewinnen. Kalifornien ist eine demokratische Hochburg. Umso grösser dafür ihre Funktion als Magnet für die Stimmen von Schwarzen und von Frauen in den Vororten Amerikas, die 2016 noch für Donald Trump gestimmt haben.
Eine künftige Präsidentin?
Zweifellos war der Druck auf Joe Biden, sich Amerikas Schwarzen gegenüber erkenntlich zu zeigen, relativ gross, hatten doch schwarze Wählerinnen und Wähler bei der Vorwahl in South Carolina geholfen, seinen desaströsen Wahlkampfstart in Iowa, New Hampshire und Nevada vergessen zu machen und seine bereits totgesagte Kandidatur wiederbelebt. Noch ist offen, wie der progressive Flügel der demokratischen Partei auf Harris reagiert, ob er sich allenfalls enttäuscht der Stimme enthält oder ob ihm das Anliegen, Trump aus dem Amt zu jagen, wichtiger ist.
Durchsichtig ist auf jeden Fall die Kritik jener Kreise, die Kamala Harris vorwerfen, sie sei «zu ehrgeizig». So als ob nicht jeder oder jede, der oder die für die höchsten Ämter im Staate kandidiert, ehrgeizig wäre. Wichtiger wohl die Kompetenz einer Kandidatin oder eines Kandidaten für das zweithöchste Amt: dass sie oder er bereit ist, von einem Tag auf den andern auch als Präsidentin oder als Präsident zu fungieren.
«Ms. Harris ist eine solche Person», schliesst in der «Washington Post» ein aktueller Leitartikel: «Sie ist drei Mal im bevölkerungsreichsten Staat der Nation gewählt worden. Als Generalstaatsanwältin Kaliforniens, die annähernd einem parallelen Justizministerium vorsteht, hat sie Exekutiverfahrung gesammelt und Respekt für ihren Durchblick und ihr administratives Geschick gewonnen. Als Senatorin hat sie in Washington Erfahrung gesammelt. Und als Präsidentschaftskandidatin im vergangenen und in diesem Jahr ist sie mit dem Druck des Wahlkampfes und der Debattierbühne konfrontiert worden.»