Sie kamen aus ganz Norditalien. Sie buchten eine Fahrt auf dem längsten Fluss des Landes, sangen, tranken und vergnügten sich. Später kamen die Naturfreunde und fotografierten Fauna und Flora. Heute kommt niemand mehr, denn der Fluss ist kein Fluss mehr.
Vor allem an Wochenenden reisten sie an. Meist waren es wohlhabende Italienerinnen und Italiener aus den grossen norditalienischen Städten. Frauen und Männer, gekleidet nach der letzten Mode der Zwanziger- und Dreissigerjahre. Bedienstete standen bereit und geleiteten die Gäste auf die einfachen Holzbarken. Dort spielten Musikanten, Kellner schenkten Champagner aus. Sonnenschirme wurden verteilt. Die Fahrt dauerte wenige Stunden, zuerst flussaufwärts, dann flussabwärts. So erzählt man es sich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen nicht nur die Betuchten. Der Po wurde in den Sommermonaten zu einem Magnet. Viele private Boote tauchten auf. Da und dort mietete man kleine Schiffe, um den Fluss selbst zu erkunden – ein Paradies für Ornithologen und Pflanzenkundler. Vor kurzem noch konnte man in Turin eine Fahrt bis hinunter an die Adria buchen. Mit vier Übernachtungen auf dem Schiff.
Zu Fuss über den Fluss
Heute verkehren hier keine Schiffe mehr. Tausende Menschen, die vom Po-Tourismus lebten, sind arbeitslos. Selbst kleine Schiffe ohne Tiefgang laufen auf Grund.
«Ich habe noch nie Sandbänke inmitten des Po gesehen», erzählt uns Giulia. Sie ist gut vierzig Jahre alt und lebt seit ihrer Geburt direkt am Wasser in Polesine Parmense in der Emilia-Romagna. An einigen Stellen kann man zu Fuss über den wichtigsten italienischen Strom gehen.
«Mai visto – nie gesehen», seufzt ein Achtzigjähriger, der mit dem Velo entlang des Flusses fährt. Die privaten Schiffe sind an der Anlegestelle festgebunden. Sie werden dieses Jahr nicht mehr auslaufen. Andere stecken auf den Kiesbänken fest.
Zwölf Mal weniger Wasser
Die Zahlen sind erschreckend. Das Wasser ist hier höchstens einen Meter tief. «Früher waren es vier oder gar fünf Meter», erzählt Giulia. Ein Messband in Polesine steht im Trockenen. Bei Hochwasser lag der Pegel gar acht Meter über dem heutigen Stand. Die Dämme hier sind zehn Meter hoch.
In Boretto in der Emilia-Romagna flossen im Juni letzten Jahres pro Sekunde 1’019 Kubikmeter Wasser den Po herunter. Heute sind es 135 Kubikmeter – fast acht Mal weniger. Schlimmer ist es noch in Pontelagoscuro bei Ferrara. Dort fliessen pro Sekunde noch 114 Kubikmeter Wasser vorbei. Zwölf Mal weniger als vor einem Jahr. «Ein Gigant ohne Wasser», schrieb die Turiner Zeitung «La Stampa». Auch die Fischer haben ihre Angeln eingezogen. Fische gibt’s hier kaum mehr.
450-Kilo-Bombe im Wasser
Am Wochenende fanden Anwohner im trockenen Flussbett beim lombardischen Dorf Borgo Virgilio bei Mantua eine 450 Kilogramm schwere, nicht explodierte Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Nach Angaben des Militärs enthielt der Sprengkörper 240 Kilogramm Sprengstoff. Spezialisten der Armee brachten die Bombe zu einer kontrollierten Explosion. 3000 Anwohner wurden für einige Stunden evakuiert. Auch der Luftraum wurde für kurze Zeit gesperrt.
Archäologen lieben diese Wasserknappheit. Bei Chivasso bei Turin wurde im Schlamm das Wrack eines römischen Kriegsschiffes entdeckt. Es soll im ersten Jahrhundert nach Christus im Einsatz gewesen sein.
Kein Regen seit 130 Tagen
Begonnen hatte das Desaster im vergangenen Winter. Damals fiel wenig Schnee, und die Schneeschmelze brachte dem Strom nur wenig Wasser. Dazu kam der fehlende Regen. In Norditalien und weiten Teilen im übrigen Land fiel in diesem Frühjahr und Sommer so wenig Regen wie nie. In einzelnen Gebieten hat es seit über 130 Tagen nicht geregnet.
Nicht genug: Die ungewöhnliche Hitzewelle liess Flüsse austrocknen und Felder verdorren. Während anderthalb Monaten war es in weiten Teilen der Po-Ebene nie unter 30 Grad warm – mit Spitzentemperaturen von 44 Grad.
Ein Drittel der Ernte ist zerstört
Doch der Wassermangel ist auch menschengemacht. Der Po ist die eigentliche Lebensader Norditaliens. Dem Fluss werden jährlich weit über zehn Milliarden Kubikmeter Wasser für Industrie, Landwirtschaft und Energieerzeugung entnommen. Ein Grossteil dieser Menge fehlt jetzt. Zuflüsse wie der Arda sind total ausgetrocknet.
Die Schäden, die die Trockenheit, die Hitze und die fehlende Bewässerung verursachen, werden auf sechs bis zehn Milliarden Euro geschätzt. Überall ausgetrocknete Kulturen. Ein Drittel der Ernte ist zerstört. Mais braucht viel Wasser, überall sieht man verdorrte Maisfelder. Auch die Reisernte wird dieses Jahr kläglich ausfallen. Die Reisfelder sollten jetzt geflutet werden. Doch die meisten Pumpen mussten abgeschaltet werden. Das Wasser fehlt.
Das Obst und das Gemüse auf den Feldern «verbrennt» in der gleissenden Sonne. In einzelnen Gebieten sind zwei Drittel der Ernte verdorrt. Am stärksten betroffen sind Auberginen, Melonen, Wassermelonen, Pfirsiche, Birnen, Tomaten. All das bringt für den Konsumenten schmerzhafte Preissteigerungen. Dazu kommt die Inflation.
Auch das Vieh leidet unter der Hitze. Laut dem Landwirtschaftsverband Coldiretti Lombardia geben die Kühe zur Zeit bis zu dreissig Prozent weniger Milch.
«Gesalzene» Felder
Schlimmer noch: Im Mündungsdelta an der Adria ist der Wasserstand des Po so niedrig, dass das Salzwasser bei Flut weit in die Landwirtschaftsgebiete eindringt. Riesige Felder und Kulturen werden buchstäblich «gesalzen».
Doch nicht nur die Landwirtschaft ist vom fehlenden Wasser bedroht. Wegen des mangelnden Wasserdrucks stürzen Uferverbauungen ein. Es kommt zu Hangrutschen, Dämme bröckeln.
Ist der jetzt tiefe Wasserstand wirklich der tiefste seit Menschengedenken? 1965 soll der Fluss auch fast kein Wasser geführt haben. Doch die Alten sind sich nicht einig, ob es damals wirklich so wenig war wie jetzt.
Mythische Bedeutung
Der 652 Kilometer lange Po, der in den Cottischen Alpen an der französisch-italienischen Grenze entspringt und ein Einzugsgebiet hat, das fast zweimal so gross ist wie die Schweiz, hat in Italien für viele mythische Bedeutungen. Zahlreiche Legenden ranken um ihn.
Fabelwesen sollen hier auf und im Wasser leben. Natürlich tummelten sich auch Wasserjungfrauen. Bäuerinnen sollen ihren Männern verboten haben, fischen zu gehen, weil sie fürchteten, die Fischer würden von den Jungfrauen verführt. Auch der Teufel soll mit einer Barke den Fluss hinuntergefahren sein. Ein schwimmender Bulle mit zwei Köpfen soll ihn getötet und den Ratten zum Frass vorgeworfen haben.
Der Po durchfliesst vier italienische Regionen, 13 Provinzen und 183 Gemeinden, bevor er in die Adria mündet. Die Unesco hat ihn zum Weltkulturerbe erklärt. Auch Adriano Celentano, Lucio Dalla, Domenico Modugno und Jovanotti besangen den Fluss.
«Die Toilette Norditaliens»
Doch die Behörden vernachlässigten den Strom mehr und mehr. Um die Jahrtausendwende sei das Wasser des Po immer dunkler, immer brauner geworden, erzählen Anwohner. Schlamm, Schutt, Abfall, ganze Bäume trieben im Wasser. Viele Gemeinden leiteten ihre Abwässer ungefiltert in den Fluss. An den Ufern tummelten sich Ratten. Der Fluss erhielt den Übernamen «Die Toilette Norditaliens». Da und dort stank er zum Himmel.
Doch dann, vor zehn, fünfzehn Jahren sei eine leichte Besserung eingetreten, erzählen Anwohner. Immer mehr Kläranlagen wurden gebaut. Uferwege wurden gepflegt, Anlagestellen wurden renoviert. So sollte die Wirtschaft entlang des Po wieder belebt werden. Da und dort wurde im Wasser wieder gebadet. Ziel war es, den Fluss touristisch wieder attraktiv zu machen.
Romantisches Abendessen bei Sonnenuntergang
In dieser Zeit hatte Alberto Faravelli eine Idee. Zusammen mit seiner Tochter liess er das gut 13 Meter lange Ausflugsschiff namens «Beatrice» bauen. So heisst seine Tochter. Alberto und Beatrice boten «Kreuzfahrten» auf dem Fluss an. 30 Personen hatten auf dem Motorboot Platz. Wieder wurde wie früher gefeiert, getrunken und sogar Feuerwerk gezündet. Gebucht wurde das Boot für Familienausflüge oder private Feiern: Apéritif und romantisches Abendessen bei Sonnenuntergang. Ausgangspunkt der Touren war die Ortschaft Frega westlich von Piacenza.
Doch jetzt dümpelt der Fluss vor sich hin. Schifffahrten sind nicht mehr möglich. Das wenige Wasser, das der Strom noch führt, wird immer wärmer. Da und dort werden Wassertemperaturen von 30 Grad und mehr gemessen. Das fördert die Verbreitung von Bakterien. Dazu kommt, dass noch immer ungeklärtes, mit Fäkalien angereichertes Wasser in den Po fliesst. Das verunreinige Wasser gelangt dann in die Adria, wo viele Badestrände geschlossen werden.
Schiffbruch
Viele fürchten, dass die diesjährige Trockenheit nur der Anfang ist. In zehn Jahren werde der Fluss nur noch 80 Prozent der üblichen Wassermenge führen, prophezeien einige. Das Magazin «L’Espresso» zitiert einen Anwohner mit den Worten: «Bisher haben sich die Bauern grundlos über alles und jedes beklagt. Jetzt allerdings haben sie allen Grund, sich zu beklagen.»
Auch «Beatrice» sitzt fest. Enttäuscht haben Vater und Tochter aufgegeben. Seit Jahren sinkt der Wasserstand des Flusses. Der jetzige dramatische Wassermangel würde ein Auslaufen des Schiffes verunmöglichen. Beatrice sagt es so: «Wir haben auf dem Po Schiffbruch erlitten.»