Vor einer ganzen Reihe Jahren schon fragte ein guter irischer Freund, ob man denn den wesentlichen mentalen Unterschied zwischen dem deutschen und dem Inselvolk kenne? Seine Definition: „Wenn bei uns in Irland ein grosses Unglück passiert – und wir haben im Verlauf der Geschichte, weiss Gott, schon viele Katastrophen und Hungersnöte erlebt – wenn also wieder einmal so etwas passiert, dann machen wir uns selber wieder Mut, indem wir sagen: „Schrecklich, aber es hätte auch noch schlimmer kommen können.“ Wenn hingegen bei Euch irgendeine Kleinigkeit schief läuft oder auch nur der allgemeinen Vorstellung nicht entspricht, dann folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit das Lamento: „Schlimmer kann es gar nicht mehr kommen.“ Übrigens: Der Mann war Deutschland und den Deutschen ausserordentlich zugeneigt.
Zugespitzt, aber wahr
Diese Aussage war gewiss zugespitzt. Aber falsch war sie damit nicht. Man kann den zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz lebenden Landeskindern sicher manche Tugend zusprechen. Fleiss zählt ohne Zweifel dazu (wenigstens war das früher der Fall), wohl auch der Hang zu einem gewissen soliden Haushalten, die Entwicklung und Herstellung hochwertiger Produkte, nicht zu vergessen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit (wenn man mal die Deutsche Bahn ausnimmt). Nur eines lassen sie sich ganz gewiss nicht nachsagen: Eine ausgeprägte Neigung oder gar Fähigkeit zu abwägender Gelassenheit, Besonnenheit und Streben nach innerem Gleichgewicht zu haben – schon gar nicht dann, wenn die gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Winde rauer und kälter blasen.
Historiker und Psychologen bieten für dieses Phänomen immer wieder Erklärungen an. Dazu gehört, logisch, die vielfach gebrochene deutsche Geschichte, der erst spät erreichte Nationalstaat, die beiden Kriegskatastrophen im 20. Jahrhundert usw., usw. … Alles richtig, gut, schön und einsichtig. Aber seit dem Ende des zweiten grossen Völkermordens sind mittlerweile mehr als sieben Jahrzehnte vergangen. Aus den Trümmern ist durch menschlichen Fleiss (nicht zu vergessen auch: vor allem amerikanische Hilfe) Neues entstanden, nicht zuletzt – wenigstens im westlichen Teil – eine in der deutschen Geschichte bis dahin noch nie gekannte Friedensphase mit ebenfalls bis dahin einmaligem Wohlstand. Und trotzdem ist die permanente Bereitschaft hierzulande zur Panik nicht zu übersehen und schon gar nicht zu überhören.
Zur Freude unfähig?
Das Frankfurter Psychoanalytiker-Ehepaar Alexander und Margarete Mitscherlich hatte 1967 mit dem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ die Weigerung der damaligen deutschen Öffentlichkeit aufgespiesst, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Auch das ist schon lange her, und viele der seinerzeitigen Kritikpunkte sind zum Glück obsolet geworden. Dennoch – kann es sein, dass sich ein solcher Hang zum Verdrängen und Trauer über frühere Taten möglichst gar nicht zuzulassen, ein selbst noch späteren Generationen eigenes, spezifisches Verhalten übertragen hat? Nämlich die Unfähigkeit, sich zu freuen. Schon ein einfaches Blättern, zum Beispiel im bevorzugten Motz-Medium namens Facebook, ist durchaus geeignet, nicht nur ohnehin zur Ängstlichkeit neigenden Zeitgenossen zusätzlich tiefe Sorgenalten in die Stirn zu graben. „Es wird noch viel schlimmer“, ist nur einer von vielen zustimmenden Kommentaren von „Freunden“ und „Followern“ auf die apokalyptischen Zukunftsmalereien diverser Weltuntergangs-Propheten.
Nun wüsste man ja mitunter gern, was denn so im Einzelnen „noch viel schlimmer“ werde. Schliesslich möchte man sich vielleicht ja auch selber gegen das angeblich unmittelbar bevorstehende Unheil wappnen. Solche Spezifizierungen bleiben indessen in aller Regel aus; sie werden von den Autoren vermutlich einfach durch den Begriff „alles“ umfassend beschrieben. Doch halt! Eine Ausnahme sticht immerhin aus der amorphen Masse dieser allgemein gehaltenen düsteren Visionen heraus – der mittlerweile für anscheinend ganze Heerscharen traumatisierter Mitbürger personifizierte Schreckensname Angela Merkel. Nicht selten hat das schon den Anschein, dass diese Zeitgenossen richtig glücklich sind, ihren Frust über eine konkrete Person ausgiessen zu können. Das macht einem, bei aller berechtigten Kritik an vielen politischen Entscheidungen, diese Frau fast schon wieder sympathisch. Solche Nehmerqualitäten besitzen schliesslich nicht alle im Rampenlicht stehenden und den öffentlichen Giftpfeilen ausgesetzten Politiker.
Eine Mauer ums Land?
Ja natürlich, die Zeiten sind schwierig. Aber sind Schwierigkeiten nicht dazu da, bewältigt zu werden? Ebenfalls unbestreitbar, die Krise um den Massenzustrom von Flüchtlingen, Asylbewerbern, nach einem lebenswerten Dasein strebenden Ausländern ist noch lange nicht bewältigt. Und sie wäre es mit Sicherheit auch dann nicht, wenn es nicht den unkontrollierten Grenzübertritt, nicht den drei Jahre währenden und weitgehend nutzlosen politischen Streit und entsprechend ausgebliebene Entscheidungen gegeben hätte, nicht die katastrophalen Zustände bei den Entscheidungsbehörden. Fast 70 Millionen Menschen befinden sich, nach Uno-Angaben, gegenwärtig weltweit auf der Flucht – vor Krieg, Gewalt, Hunger, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit. Das ist die grösste Zahl in der Geschichte der Menschheit. Die schiere Zahl übersteigt das Vorstellungsvermögen jedes Einzelnen von uns. Und doch muss man sich bewusst machen, dass hinter allen ein individuelles Schicksal steht. Also eine Mauer um das Land?
Es ist nicht ausgeschlossen, dass an dem Problem tatsächlich die ohnehin nicht stabile Regierung in Berlin zerbricht. Nun sind Krisen in der Politik nichts Ungewöhnliches – auch und gerade nicht in einer Demokratie. Und hier und da wird ja auch bereits das Halali für das Ende der Jagd auf die gegenwärtige Kanzlerin geübt. Vielleicht steht Merkel diese Zeit durch, vielleicht auch nicht. Und dann? Irgendwann Neuwahlen. Die SPD hat bislang noch von keiner Dummheit der Union profitiert, im Gegenteil. Also noch mehr Hinwendung politisch Blinder zur AfD? Nicht ausgeschlossen. Mit der keineswegs unwahrscheinlichen Konsequenz, dass die einzige Möglichkeit für eine neue, zahlenmässig regierungsfähige Koalition in einem Bündnis zwischen CDU (ob mit oder ohne CSU) und der AfD besteht. Lieb Vaterland, magst ruhig sein! Dagegen wären sogar „italienische Verhältnisse“ harmlos.
Das sind – vielleicht – nur Zerrbilder einer beunruhigten Fantasie. Hoffentlich. Indessen treibt es einem schon den Schweiss auf die Stirn, wenn man beobachtet, wie leichtfertig, ja geradezu mutwillig auch und besonders in dem ja nicht gerade ganz unwichtigen Land in der Mitte Europas daran gearbeitet wird, all das wieder zu zerstören, was die wahrscheinlich kostbarste Errungenschaft ist, die auf diesem Kontinent jemals erreicht wurde. Nämlich: Das in der internationalen Geschichte bislang einmalige Experiment, Grenzen zu beseitigen, den freien Austausch von Ideen, Waren und Menschen zu ermöglichen – und vor allem: alles ohne Gewaltanwendung. Beim Gedanken daran, dass dieses Werk wirklich zertrümmert wird, kann einen wirklich Panik erfassen. Nicht nur im deutschen Mutterland der Ängstlichkeit.