C.P. Snow hat den Diskurs über die Geistes- und Naturwissenschaften mit einem Arsenal von Gegensatzschablonen munitioniert, die gestatten, über das jeweils andere Lager «im Bild» zu sein, ohne sich mit ihm genauer auseinandersetzen zu müssen: Die einen messen, die andern bilden; die einen erklären, die andern verstehen; die einen sehen voraus, die andern erinnern sich; die einen treiben‘s gewaltsam mit dem Gegenstand, die andern gehen zart mit ihm um; die einen sehen das «ganze» Phänomen, die andern reduzieren es auf Zahlenverhältnisse; die einen interessieren sich fürs Allgemeine, die andern fürs Besondere – und so liesse sich die Litanei dieses Clash of Sciences fast endlos weiterbeten.
Wie hast du es mit der Geschichte?
An Gegensätzen ist immer ihre «Gemachtheit» charakteristisch, d.h. sie verdanken sich einem – methodischen oder ideologischen – Ausblendungsvorgang all dessen, was zwischen ihnen liegt und zwischen ihnen vermitteln könnte. So verhält es sich mit den Geistes- und Naturwissenschaften im Allgemeinen, und so verhält es sich im Besonderen mit ihrem Verhältnis zur Geschichte.
Gerade dieses Verhältnis bietet nun einen passenden Ausgangspunkt, um die Frage nach dem geistes- und dem naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt im Rahmen der heutigen Forschungrealität zeitgemäss zu stellen. Grob lassen sich nämlich Geistes- und Naturwissenschaften anhand einer Frage unterscheiden: Wie hast du es mit der Geschichte?
Erstere benötigen Geschichte als Fundus ihrer Forschung, für letztere behindert Geschichte den Fortschritt. Studenten der deutschen Literatur ziehen ihren Nutzen aus der Lektüre eines Goethe, Heine, Döblin oder Brecht; Studenten der Physik wären arg aufgeschmissen, müssten sie die Originale von Newton, Laplace, Boltzmann oder Einstein lesen.
Intergrierter Bestandteil naturwissenschaftlicher Bildung ist ihr «Oblivionismus», wie das der Romanist Harald Weinrich genannt hat. Sie profiliert sich im hohen Mass durch systematisches Vergessen von altem Wissen und von anderen Wissensformen. Sie lässt selektiv aus andern Traditionen, Epochen und Kulturen nur gelten, was Eingang in den «sanktionierten» Wissenskorpus der Gegenwart gefunden hat. Eine Wissenschaft, die ihre Ursprünge nicht vergisst, ist verloren, sagte der englische Philosoph Alfred North Whitehead einmal.
Der Traum von einer Sozialphysik
Bereits im 19. Jahrhundert, dieser Epoche des erstarkenden naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses, wurden Ideen laut, die historisch verfahrenden Sozialwissenschaften durch naturwissenschaftliche Aufmöblierung zu seriösen Prognoseinstrumenten zu machen. Der Philosoph Auguste Comte und der Statistiker Adolphe Quetelet z.B. trugen sich mit der Vision einer «Sozialphysik», die unter Kenntnis der Anfangsbedingungen bestimmte soziale Ereignisse mit ähnlicher Präzision voraussagen würde wie die Himmelsmechanik den Lauf der Planeten.
Das war zu dieser Zeit ein naiver methodologischer Wunschtraum. Heute verspricht ein aktueller – ebenso naiver – methodischer Trend auf den ersten Blick, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Nichtlineare Mathematik, Netzwerktheorie, leistungsfähige Algorithmen, die riesige Datenbanken durchkämmen und analysieren, Computersimulationen, die komplexe Abläufe detailliert modellieren: «Big Data» ist das Zauberwort, das die Schatzkammern der Geschichte öffnet.
Peter Turchin zum Beispiel ist Populationsbiologe. Nachdem er Räuber-Beute-Zyklen im Tierreich studiert hatte, kam er auf die Idee, mit mathematischen Techniken das demografische, politische und ökonomische Datenmaterial aus den letzten 200 Jahren amerikanischer Geschichte zu durchkämmen. Dabei entdeckte er eine auffällige Wiederholung von «Gewalt-Spitzen»: um 1870 nach dem amerikanischen Sezessionskrieg; um 1920, zur Zeit von Rassenunruhen, Arbeiterbewegung und antikommunistischer Reaktion; und um 1970, zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung, der Opposition gegen den Vietnamkrieg und des kulturellen Wandels in der US-Gesellschaft. Gemäss diesem Modell der 50-Jahre-Zyklen sollte also eine neue Unruhezeit um 2020 zu erwarten sein.
Kliodynamik
Turchin nennt diesen Ansatz «Kliodynamik», benannt nach der griechischen Muse der Historiographie Clio. Was an der Kliodynamik über die disziplinäre Grenze hinaus aufmerken lässt, sind nicht so sehr die Zyklen, die sie postuliert, als vielmehr ihr erkenntnistheoretischer Fanal-Charakter.
«Was verursachte den Fall des römischen Reiches?» beginnt Turchin angriffig einen Artikel in der Zeitschrift «Nature». «Mehr als 200 Erklärungen sind bisher vorgeschlagen worden, aber es existiert kein Konsens, welche akzeptiert und welche verworfen werden sollen. Die Situation ist ebenso lachhaft wie wenn in der Physik die alte Phlogistontheorie und die Thermodynamik auf gleichem Fuss koexisieren würden. Dieser Zustand ist ein Hindernis (..)»
Und der Artikel schliesst mit dem Appell: «Wir müssen quantitative Daten sammeln, allgemeine Erklärungen konstruieren und sie am gesamten Datenmaterial empirisch prüfen, statt nur an sorgfältig ausgewählten Fällen, die unsere Lieblingsgeschichten bestätigen. Um wirklich aus der Geschichte zu lernen, müssen wir sie in eine Wissenschaft verwandeln.» Geschichte wird, anders gesagt, in dem Masse zu einer Wissenschaft, in dem sie Voraussagen macht und z.B. der Risikoprävention dient.
Die gegenwärtige Machtkonstellation
Nun gibt es dagegen a priori nichts einzuwenden. Ebensowenig verbietet uns eine methodische Regel, mathematische Techniken, die sich bei Waldameisen und Borkenkäfern als erkenntnisfördernd erweisen, auf menschliche Populationen und kulturelle Phänomene anzuwenden. Physiker betätigen sich heute als Soziologen, Mathematiker als Literaturwissenschafter. Das ist nicht das Problem.
Vielmehr werfen Turchins vollmundige Worte ein Schlaglicht auf die gegenwärtige Machtkonstellation in den Wissenschaften, zumal auf das Verhältnis der zwei Kulturen. Dass er die Vielfalt der Erklärungsansätze ausdrücklich als «lachhaftes» Defizit der Geschichtswissenschaften ansieht, lässt sich ja als stillschweigende Vorherrschaft eines ganz bestimmten Modus des Erklärens interpretieren, eben jenes der exakten, messenden, prognostizierenden Wissenschaften.
Dirk Helbling von der ETH ruft vollmundig nach einem «Apollo-Programm für die Sozialwissenschaften». Wir würden Milliarden zur Erforschung des Ursprungs des Universums ausgeben, «aber wir kennen immer noch nicht die Bedingungen für eine stabile Gesellschaft, eine funktionierende Ökonomie oder Frieden.» Diese Ignoranz sollen Sozio- und Kliodynamik beseitigen.
Das Defizit liegt bei den Naturwissenschaften
Angesichts des oft triumphalen Gehabes von «Big Data» erschiene es gerade für traditionelle Stätten der Bildung wie Universitäten an der Zeit, sich auf ein tieferes Problem zu besinnen, das in solchen hegemonialen Erkenntnisansprüchen aufbricht. Zu begreifen wäre, konkreter gesagt, dass die exakt-experimentelle Vorgehensweise überhaupt erst die Notwendigkeit des Narrativen schafft.
Als einer der wenigen zeitgenössischen Philosophen hat Odo Marquard das Problem auf den Punkt gebracht, als er das Defizit nicht bei den historisch, sondern bei den unhistorisch verfahrenden Disziplinen ortete: «Das notwendige und fruchtbare Defizit der exakten Wissenschaften – ihre Geschichtslosigkeit – erzwingt spezifisch modern seine Kompensation durch ein Organ für die Geschichten: eben die Geisteswissenschaften. Darum machen die modernen Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften nicht etwa überflüssig (..), sondern sie machen sie nötig.»
Universität als kompensierende Institution
Alles Faktische ist bereits Historie. Jedes Experiment ist letztlich ein einmaliges geschichtliches Ereignis. Es erweist sich in dem Masse als wirksam und erfolgreich, in dem man das Untersuchungsobjekt ent-historisiert, will heissen: in ein «laborfähiges» verwandelt, von allen singulären Begleiterscheinungen «reinigt». «Geschichtsuniformierung» nennt dies Marquard. Das ist immer ein Akt des Auslassens – eben des Abstrahierens. Ein verhohlener Zug der Willkür. Er gelingt nie vollständig.
Was umgekehrt die Frage aufwirft, wo denn eigentlich der «Abfall» der Abstraktion verbleibt – eine eminent geschichtliche Frage. Halten wir uns vor Augen: In diesem «Abfall» befindet sich das Individuelle, das Singuläre, das Unvorhersehbare – das Menschliche. Wir erzählen uns Geschichten, weil wir Menschen sind, und insofern wir Menschen sind, gehen wir nicht auf in einer Welt blosser Fakten und Daten.
Es mag – im Sinne der Gefahrenabschätzung – durchaus nützlich sein, das Verhalten menschlicher Populationen wie ein «soziales Fluid» zu beschreiben; aber anders als die Physiker können historisch verfahrende Disziplinen – wie Wolfgang Pauli einmal sagte – nicht auf den Luxus verzichten, auch individuelle Beweggründe zu berücksichtigen.
In diesem Sinn kann man Turchins Satz auch umkehren: Um wirklich etwas von einer Wissenschaft zu lernen, muss man sie aus ihrer Geschichte heraus verstehen. Dazu braucht es keine mit Milliarden gemästeten Glamour-Forschungsprojekte, sondern nur die Schärfung des Blicks für die menschliche Geschaffenheit und Verfasstheit – und damit für den prekären Charakter – aller Wissenschaft. Wann besinnen sich die Universitäten wieder darauf?