Christoph Dicken von Oetinger hatte Anfang der Neunzigerjahre in der ruandischen Hauptstadt Kigali eine Fabrik aufgebaut. Sie produzierte wellblechähnliche Dächer aus Papyrus.
Dann kam der Völkermord des Jahres 1994. Innerhalb von hundert Tagen töteten Hutu-Rebellen über 800‘000 Menschen – vorwiegend Angehörige der Tutsi-Minderheit. Christoph Dicken von Oetinger verlor seine Fabrik und kehrte in die Schweiz zurück.
Jetzt, fast 20 Jahre später, hat ihn SRF-Reporterin Astrid von Stockar auf seinem Weg zurück begleitet. Es gelang ihr auch, den ruandischen Staatspräsidenten Paul Kagamé zu interviewen. Ihr Dokumentarfilm wurde am Sonntag, 15. September, auf SRF 1 ausgestrahlt.
Journal21: Frau von Stockar, 20 Jahre lang wollte Christoph Dicken von Oetinger nicht nach Ruanda zurück. Der Völkermord hatte ihn traumatisiert. Was veranlasste ihn, nun doch zu gehen?
Astrid von Stockar: Letztes Jahr endeckte er mit 76 Jahren die Möglichkeiten von Google Earth. Plötzlich ist eine Neugier erwacht, aus sicherer Distanz zu sehen, in welchem Zustand seine Fabrik in Kigali war…Obwohl er den Verlust der Fabrik finanziell schon längst verdaut hatte, beschäftigte ihn sehr, dass er offensichtlich enteignet worden war und ihn niemand darüber informiert hatte. Es hat ihn gereizt herauszufinden, was genau hinter seinem Rücken geschehen war.
Sie haben ihn mit einem Kameramann begleitet. Was verspricht er sich von dieser Medienpräsenz?
Wenn ich nicht insistiert hätte, mit mir auf „Entdeckungsreise“ zu gehen, hätte er es wohl nie gemacht. Es ging ihm nicht um Medienpräsenz, das war für ihn eher eine unangenehme Nebenerscheinung.
War er von Anfang an bereit, mit einem Fernsehteam zu reisen?
Da er ein grundsätzlich bescheidener Mensch ist, konnte er sich am Anfang gar nicht vorstellen, dass sich Zuschauer für seine Geschichte interessieren könnten. Zudem steht er immer noch an der Spitze seiner weltweit tätigen Firma Gutta, baut gerade eine neue Fabrik in Russland und hat mit seinen 77 Jahren einen übervollen Terminplan. Es hat deshalb einige Ueberzeugungsarbeit gebraucht, bis er einwilligte, eine ganze Woche mit mir nach Kigali zu reisen.
Ruanda war ja Anfang der Neunzigerjahre nicht gerade ein einladendes Land. Was hat ihn dorthin gezogen?
Christoph Dickens Firma „Gutta“ produziert auf der ganzen Welt Dachplatten aus Altpapier. Ruanda war damals für den Schweizer Bund, trotz undemokratischer Hutu-Regierung, ein mit sehr hohen Entwicklungsgeldern gefördertes Land. Die Schweizer Entwicklungshilfe brachte Dicken damals auf die Idee, in Ruanda Papyrus zu verwenden, das vor Ort wächst. Diese Dachplatten waren leichter, billiger und isolierten besser, als das herkömmliche Wellblech. Die Idee eines nachhaltigen Produktes für den afrikanischen Markt und die Tatsache, dass die Entwicklungshilfe einen Teil der Fabrik mitfinanzierte, begeisterte Christoph Dicken.
Sie haben ihn bei seiner Ankunft in der Hauptstadt Kigali getroffen. Beschreiben Sie uns seine Gemütsverfassung.
Er war sehr müde und hat sich immer wieder gefragt, was er hier eigentlich zu suchen habe. Man hat gespürt, dass er vieles verdrängt hatte und auf keinen Fall wollte, dass ihn diese Reise emotional durcheinander bringen würde.
Sie sind dann zusammen an den Ort gefahren, wo seine Fabrik stand. Wie hat er reagiert?
Wie ein kleiner Junge: neugierig, aufgeregt und erstaunt. Er hat alles wiedererkannt und staunte, wie die Fabrik in eine moderne Abfüllanlage umgewandelt worden war. Er hat sich selber und uns immer wieder laut gesagt: „Il faut oublier et digerer“…Vergessen und verdauen! Er hat versucht unberührt zu wirken, aber man spürte, wie es in ihm brodelte.
Was geschah mit den Arbeitern, die in seiner Fabrik arbeiteten?
Eine Mehrheit der Arbeiter wurde während des Genozids umgebracht. Es gab Listen, die wir gefunden haben, auf denen vermerkt wurde, wer verstorben, lebend oder vermisst war.
Hat er Leute getroffen, mit denen er früher zusammengearbeitet hatte?
Wir trafen nur Bertin Makuza, der damals als lokaler Geschäftsmann in seinem Verwaltungsrat sass. Er kam zu uns ins Hotel. Dicken war richtig nervös vor dem Treffen und lief in der Hotellobby rauf und runter. Dann umarmten sich die beiden alten Männer wortlos. Bertin ist ein Tutsi und hatte den Genozid wie durch ein Wunder überlebt. Die Schweizer Botschaftssekretärin, die er durch Dicken kennengelernt hatte, holte ihn und seine Kinder am zweiten Tag des Genozids unter Lebensgefahr zu Hause ab und brachte sie in das Uno-bewachte Hotel „Milles Collines“. Im Hollywood-Film „Hotel Rwanda“ wird die Geschichte dieser Ueberlebenden im Milles Collines gezeigt. Bertin Makuza hatte Tränen in den Augen, als er Dicken erzählte, dass er und seine Familie nur dank dieser mutigen Frau noch am Leben seien.
War er im Nachhinein für den Verlust seiner Fabrik entschädigt worden?
Nein, nie. Er dachte bis letztes Jahr, dass er wenigstens den Grund und Boden noch besitzen würde. Angeblich wurde die Fabrik vor ein paar Jahren versteigert, aber wir haben weder im Handelsregisteramt noch auf der Bank irgendwelche Unterlagen gefunden. „Sie ist verschwunden“, sagt Dicken im Film, als er aus dem Handelsregisteramt kommt.
Ruanda ist ja heute ein fast aufstrebendes Land. Jährlich wächst die Wirtschaft um acht Prozent. Hat er Lust, nochmals dort zu investieren?
Wenn er jünger wäre, würde er es nochmals wagen. Da bin ich sicher. Jetzt versucht er mit letzter Kraft seine Firma in gutem Zustand an seine 4 Kinder zu übergeben.
Sie konnten mit Staatspräsident Kagamé ein Interview führen. Er gibt ja selten Interviews. Wie kam dieses Interview zustande?
Ich habe sehr hartnäckig über Wochen per Mail und über Telefonate bei der Pressestelle der Regierung um ein Interview gebeten. Ich habe immer und immer wieder betont, dass Dicken und ich in friedlicher Absicht kommen würden, aber neugierig herauszufinden was mit der Fabrik geschehen war. Es sei eine einmalige Chance für den Präsidenten, wenn er dem Schweizer Publikum seine Vision von Ruanda erzählen könne. Ich war selber erstaunt, dass mein „Mantra-artiges“ Wiederholen von „Ich will zum Präsident Kagame“ tatsächlich funktioniert hat…
Wie reagierte Kagamé auf die Geschichte von Christoph Dicken von Oetinger?
Er hat uns beide sehr überrascht! Er ist auf die Geschichte eingegangen, konnte (oder wollte) natürlich nicht beantworten, was genau mit der Fabrik geschehen war und weshalb sie jetzt seiner Partei gehört, aber er kannte die Dachplatten! Als er vor 20 Jahren als Anführer der Ruandischen Patriotischen Front den Genozid beendete, habe er alle Leute gefragt, wo denn die Betreiber der Fabrik seien und wie man sie dazu bringen könne, die Produktion wieder aufzunehmen. Sie hätten genau solche Dachplatten dringend beim Wiederaufbau des Landes benötigt.
Kagamé gilt als Mann, der mit eiserner Faust regiert. Er unterdrückt die Presse und verfolgt Oppositionelle. Doch wirtschaftlich hat er Erfolg. Armut und Korruption werden erfolgreich bekämpft. Die Weltbank sagt, es sei einfacher heute in Ruanda Geschäfte zu machen als in Italien oder Ungarn. Welchen Eindruck haben Sie von ihm?
Er hat auf mich einen unglaublich engagierten und leidenschaftlichen Eindruck gemacht. Er kämpft für sein Volk! Er wirkt unbestechlich und absolut glaubwürdig in dieser Rolle.
Weshalb hat er Sie eigentlich empfangen? Wollte er sich nur einmal mehr als friedfertiger Präsident präsentieren?
Er hat ein grosses Interesse, ausländische Investoren anzuziehen und ich glaube, dass ich ihm mit diesem Interview für das Schweizer Fernsehen ein Silbertablett präsentiert habe, auf dem er seine Vision darlegen konnte. Das Gespräch dauerte über eine Stunde. Er hat mir sehr detailliert erzählt, wie er das zerstörte Land wieder aufgebaut hat, wie er langfristig einen Genozid verhindern wolle und wie aus der Agrarwirtschaft eine wissensorientierte Gesellschaft entstehen müsse. Seine Vision ist es, aus Kigali ein afrikanisches Singapore zu machen – eine Handelsdrehscheibe für die afrikanischen Rohstoffe…
Sie sind dann mit Christoph Dicken von Oetinger in die Schweiz zurückgeflogen. In welcher Gemütsverfassung war er?
Er war sehr glücklich und in aufgeräumter Stimmung. Er hat mir mehrmals gedankt, dass ich ihn dort runter gelockt habe. Es habe ihn gefreut zu sehen, dass es den Menschen wieder gut gehe und er habe ein wichtiges Kapitel in seinem Leben schliessen können.
(Die Fragen stellte hh)
SRF1 Die verlorene Farbrik, Video