Eine neue Hannah-Arendt-Biografie von Thomas Meyer breitet enormes und auch neues Quellenmaterial aus und bietet eine kritische Sicht auf die Denkerin. Doch das Buch verärgert mit seiner schwer lesbaren Sprache.
Nicht als eine neue Biografie, nein, als «Die Biografie» präsentiert Thomas Meyer, Professor für Philosophie in München und Herausgeber einer auf 12 Bände angelegte Hannah Arendt Studienausgabe, sein Buch. Zudem bilde seine Biografie mit diesen Bänden «eine Einheit» – sie wären demnach auch noch zu lesen? Dieser reichlich selbstgewisse Ton ist immer wieder hörbar in diesem Buch, so wenn sich Meyer etwa von der grossartigen ersten Biografie Hannah Arendts von deren Schülerin Elisabeth Young-Bruehl (erschienen 1982) absetzt, da diese stark auf «Geschichten und Anekdoten» basiere, die die Autorin «von der Denkerin selbst erhalten hatte». Seine Biografie werte dagegen «bislang völlig unbekanntes Archivmaterial und andere … ignorierte Dokumente» aus. Sie konzentriere sich deshalb ganz auf das, was in der bisherigen Literatur nicht behandelt worden sei, vieles werde man bei ihm deshalb vergeblich suchen.
In der Tat. Thomas Meyers Biografie setzt auf Schritt und Tritt die Kenntnis von Leben und Werk Hannah Arendts voraus. Sie dokumentiert dieses streckenweise akribisch detailliert, dann wieder kursorisch, erzählt die biografischen Fakten weder chronologisch noch vollständig, sondern ausgesprochen lückenhaft, will sich selektiv auf das konzentrieren, «was in der bisherigen … Literatur zu Arendts Leben und Werk gar nicht oder allenfalls am Rande behandelt wurde». Zu alledem ist das Buch auch rein sprachlich schwere Kost. Sicherlich kein Buch also für Leserinnen, die die grosse Denkerin zum ersten Mal kennen lernen möchten, ihnen sei nebst der erwähnten grossen Biografie von Young-Bruehl vor allem jene von Alois Prinz empfohlen.
Eine Biografie des Denkens
Wer mit Arendts Leben und Werk vertrauter ist, dem allerdings bietet Meyer tatsächlich eine neue Sicht auf die Rolle, die ihr Leben für ihr Denken spielte. Denn genau diese Verknüpfung von Leben und Denken ist sein Thema, für das er sich auf ein Wort von Hannah Arendt selbst beruft: «Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach – denken» sagte Arendt 1964. Es ist dieses Arendtsche Nach-Denken, dem Thomas Meyer in dieser Biografie unablässig nachforscht: Wie kam Hannah Arendt zu ihren Fragen, und wie zu ihren oft so eigenwilligen, sperrigen, umstrittenen Antworten? Seine Biografie ist der Versuch einer Darstellung der Geschichte von Hannah Arendts Denken.
Dafür konzentriert sich Meyer stark auf zwei Lebensabschnitte: zum einen auf Hannah Arendts Jahre im Exil in Paris, wo sie im Herbst 1933 nach ihrer Flucht aus Berlin 27-jährig ankommt. Nach dem deutschen Angriff 1940 wird sie zunächst im berüchtigten «Vélodrome», dann im Lager Gurs interniert, um schliesslich, zusammen mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher, im Frühling 1941 in Lissabon das rettende Schiff nach New York zu erreichen.
Zum zweiten auf die ersten rund 10 bis 15 Jahre in New York, in denen Arendt vielfältig intellektuell tätig wird – als Verlagslektorin, Journalistin, Professorin – bei alledem jedoch unablässig an ihrem ersten grossen Werk «Origins of Totalitarianism» arbeitet, das 1951 in den USA erscheint (1955 in überarbeiteter Form als «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» auf Deutsch) und sie berühmt machen wird. Von den insgesamt 480 Textseiten der Biografie nehmen diese beiden Kapitel rund 280 Seiten ein. Hier breitet Thomas Meyer seine tatsächlich erstaunliche Quellenarbeit aus.
Tätigkeit für die Jugend-Alijah in Paris
In Paris war Arendt für mehrere jüdische Organisationen tätig, vordringlich aber von 1935 bis 1939 für die Kinder- und Jugend-Alijah, für die jüdischen Bemühungen mithin, jüdische Jugendliche aus Deutschland (später auch aus Osteuropa), nach Palästina zu retten. Eine «Leerstelle» in ihrer Biografie, wie Thomas Meyer behauptet, war diese Tätigkeit zwar keineswegs. Meyer dokumentiert sie nun aber in geradezu ausufernder Weise mit überreichem Material aus Jerusalemer Archiven. Dieses betrifft allerdings auch zahlreiche weitere Involvierte in anderen europäischen Städten, die Erzählung führt hier oft weitab und wird streckenweise zu einer Geschichte der Jugend-Alijah.
Richtig bleibt, dass Arendt, in Paris alleine für alles zuständig, eine weitläufige, intensive Korrespondenz führte, zahllose Berichte schrieb, jüdische Kreise und Spender zu gewinnen suchte, Vorbereitungslager für die Jugendlichen in Frankreich organisierte und durchführte, und im Sommer 1935 auch selbst mit einer ersten Gruppe von Jugendlichen nach Palästina reiste. «Ob es nun 120 Kinder und Jugendliche waren, für deren Fahrt nach Palästina sie direkt verantwortlich war, oder doch die mindestens 500 bis 700, deren Namen auf ihrem Schreibtisch landeten» vermag auch Thomas Meyer nicht zu sagen. Doch er meint, die Jahre später in der Kontroverse um Arendts Eichmann-Bericht so vehement erhobene Anklage, sie empfinde keine Liebe für das jüdische Volk, müsse vor diesem Hintergrund neu überdacht werden.
Intellektuelle in New York
Ähnlich breit dokumentiert der Biograf Arendts intellektuelle Aktivität im ersten New Yorker Jahrzehnt, nebst ihren vielen Texten für jüdische Publikationen vor allem ihre intensiven Briefwechsel, in denen sie ihre Thesen zum modernen Antisemitismus, zu Zionismus, Imperialismus oder Bolschewismus mit Historikern und Politikwissenschaftern diskutiert. «Arendt ‘suchte’, das heisst, sie assoziierte, liess sich anregen, probierte in Korrespondenzen Ideen aus, häufiger noch … behauptete sie einfach Dinge.» Behauptungen die, wie Meyer überzeugend zeigt, im Grunde «Aufrufe, Gegenargumente vorzutragen» waren. Damit wird tatsächlich deutlich, «wie sehr Hannah Arendt vom Austausch lebte und bereit war, Argumente von anderen auf ihre eigenen Fragestellungen zu übertragen».
Gleichzeitig engagierte sich Arendt auch in New York wiederum ganz praktisch, und zwar in der Kommission für die Rückgabe jüdischen kulturellen Eigentums, der sie seit 1944 angehörte, die sie danach als Generalsekretärin leitete und in deren Auftrag sie mehrmals nach Deutschland reiste. «Ihre wissenschaftlichen Fragestellungen und ihre praktische Arbeit sind nicht zu trennen», lautet das Fazit des Autors.
Alles – die Erfahrungen von Antisemitismus, Flucht und Exil, viele Jahre der praktischen Arbeit für jüdische Organisationen – fanden ihren Niederschlag in Arendts Buch «The Origins of Totalitarianism»: ein «Skandal» von Buch, ein «zusammengewürfeltes Etwas», wie es Meyer nennt, ohne einheitlichen Aufbau, das mit Porträts von einzelnen Personen arbeitet, mit Romanen, mit Strukturen und mit neuen soziologischen Kategorien wie jener des Mobs. Noch stärker gelte dies für «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft»: Einen «Brief an die Deutschen» nennt Meyer diese stark überarbeitete deutsche Fassung, gedacht und geschrieben mit Zorn und Eifer, denn «Arendt überblendet, übertreibt, sie überführt und übersetzt. Begriffe, Bilder, Metaphern werden eigenwillig verdreht …»
Das Jahrhundert verstehen
Kurz: die «Origins» waren Arents Versuch, das Jahrhundert zu verstehen», das Buch ist «autobiographisch grundiert», wie Meyer formuliert. Arendt habe damit «zwanzig Jahre zwischen Denken und Handeln, Praxis und Theorie in Buchform gegossen». Wer das Werk kennt, wird dieser flamboyanten Analyse zustimmen.
Nach den «Origins» habe sich Arendts Prosa dann «fundamental» geändert: Sie verfüge nun über das Material und bewege sich darin souverän, schreibt der Biograf. Fast alle weiteren Bücher, Essays und Texte Arendts – eine genaue Bibliografie verzeichnet immerhin 331 Einzelveröffentlichungen – seien die «Ergebnisse eines beruhigten Schreibens». Sie werden deshalb hier nur sehr selektiv und durchwegs kommentierend vorgestellt, inhaltliche Kenntnisse werden dabei wie immer in diesem Buch stark vorausgesetzt.
«Kommentare voller Übersteigerungen»
Der nüchterne, ja kritische Blick, den Thomas Meyer immer wieder auf Person und Werk richtet, wird hier besonders deutlich. «Arendt bevorzugt den Essay, agierte frei mit dem Material, argumentierte meist polemisch, sprunghaft …» «Mit grosser Geste mittenhinein», so würden viele ihrer Bücher beginnen. Danach gehe es weiter in einem «mäandernden Stil» (Vita activa) oder auch «meinungsfreudig» (Über Revolution), mit «arendt-typischen Zutaten» wie lange Exkurse, «nur um auf den letzten Seiten bei den geliebten Griechen zu landen». Gerne habe sie damit viele Erwartungen enttäuscht. «Pfiff sie auf Sekundärliteratur?», fragt sich der Autor angesichts der Unbekümmertheit und Negligence, die Arendt gegenüber jeder Ereignis- und Geistesgeschichte zeigte.
Arendt griff in alle Debatten der Zeit ein, lieferte gerne «Kommentare voller Übersteigerungen». Immer wieder veranschaulicht Meyer Arendts rastlose Art, gleichzeitig Vorträge und Vorlesungen zu halten, eine enorme Korrespondenz zu führen, aktuelle Diskussionen zu kommentieren, neue Pläne für Bücher und Zeitschriften zu skizzieren, um alle diese «vorproduzierten» Texte dann in ihren Essays und Bücher zu verwenden, mit denen sie oft in Verzug geriet. «Dass Hannah Arendt Tag und Nacht schrieb, las, unterrichtete, sie ständig Menschen traf, reiste» habe schon ihre Zeitgenossen irritiert, ebenso wie ihre «Urteilsfreude und die darin sehr häufig zu findende Schärfe», die Meyer immer wieder kritisch bemerkt.
Die «Medienintellektuelle»
Weil in Arendts Leben und Werk zwar alles durchleuchtet sei, dabei «aber das Offensichtliche … umgangen wurde», widmet Meyer der «Medienintellektuellen» Hannah Arendt ein eigenes Kapitel. Schon im Pariser Exil, so bemerkt dieser Biograf, habe Arendt ihre Anliegen sehr geschickt in (meist jüdischen) Publikationen untergebracht: «Sie stellte sehr schnell und nahezu immer Öffentlichkeit her», stellt Meyer fest. Ein erster Fernsehauftritt 1958 in Kanada zeigt ihre TV-Begabung. Schliesslich war es dann das berühmte 70-Minuten-Gespräch «Zur Person» mit dem Journalisten Günter Gaus (ausgestrahlt im ZDF im Herbst 1964), welches Arendt zu einem eigentlichen Medienstar machte. Bis heute ist diese Sendung «Kult», da sie jenen «Arendt-Sound» festhält, den man, wie die Germanistin Siegrid Weigel bemerkte, selbst noch beim blossen Lesen ihrer Texte zu hören meine.
Auch die Frage nach Arendts Rolle als Frau gehört für Meyer zu den bisher «übersprungenen Stufen» und erhält deshalb ein eigenes Kapitel. Hier beisst sich der Biograf dann allerdings die Zähne aus: Hannah Arendt war ganz einfach «unempfänglich» dafür, sich für «die Frauenfrage» je wirklich zu interessieren, weder für ihr eigenes Leben, noch was feministische Anliegen betraf.
Falsche Sätze
Es ist äusserst bedauerlich, dass in diesem Buch so viel Wissen, Forschungsarbeit und Interpretationskraft sprachlich derart unzulänglich vermittelt wird. Immer wieder stösst die Leserin auf unverständliche oder grammatikalisch schlicht falsche Sätze. Das betrifft zum einen Meyers Darstellung des (geistigen) Beziehungsdreieckes Arendt-Heidegger-Jaspers, die sich durchwegs in fachphilosophischen Höhen bewegt.
Es geht aber auch um ganz konkrete Lebensrealität. Zu Heinrich Blücher, Arendts Ehemann, heisst es da etwa: «Blüchers vermeintlicher oder tatsächlicher Einfluss … ist ebenso unermesslich wie verschwindend gering. Letzteres im Sinne der von ihm selbst vertretenen Überlegungen, die am Gelesenen entlang entwickelte Ästhetik, die ganz auf das Mündliche und die Deixis vertraut, das Zeigen von Bildern, Postkarten». Und zu Arendts Seite in dieser enigmatischen Ehebeziehung: «Die Klugheit, die sich nicht beweisen muss, im Austausch, die reine Mündlichkeit auszuhalten, wo doch sie immer die gemachten Erfahrungen reflektiert, konnotiert, dem ‘Verstehenmüssen’ nachzugehen versucht, gerade dort, wo es sie und andere schmerzt, ist eine der Leistungen Arendts, weil die Zusammenfügung von Privatem und Öffentlichem keinen Mehrwert für den ergibt, der draussen agiert.»
Es wären leider viele weitere Beispiele zu zitieren. Dass Hannah Arendts eigener Verlag offenbar jede Investition ins Lektorat scheute, ist schlicht ein Trauerspiel.
Thomas Meyer sieht sein Buch als einen «ersten Versuch, das bislang Unbekannte zu beleuchten», seine Quellenarbeit erfordere eine «Neubewertung von Arendts Werk». Nicht um ihre Aktualität, um die viel beschworene «Denkerin der Stunde», gehe es ihm dabei, sondern um eine Darstellung von Hannah Arendts Leben und Denken in ihrer Zeit, so hat er gleich zu Anfang klargestellt.
Nach Jahren einer geradezu hagiographisch-unkritischen «Hannah-Arendt-Renaissance» ist dieser distanzierte und kritische Blick tatsächlich neu. Wie ihre Lebenszeit und Lebenserfahrung entschwindet nun offenbar auch die Denkerin, die diese so unbedingt verstehen wollte, in die Geschichte.
Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie. 520 Seiten, Piper Verlag, München 2023