Nach Syrien also Gaza. Von den westlichen Hauptstädten aus wurde leidenschaftlich um das Ende der Gewalt zwischen Israel und der Hamas gerungen. Allein Moskau hielt sich zurück, weil es vollauf mit seiner Einflusswahrung in Damaskus beschäftigt ist. Da Ban Ki-Moon, Tony Blair, Hillary Clinton, Laurent Fabius und Guido Westerwelle in Jerusalem zunächst nichts anderes erwarten konnten, als mit den bekannten Formeln der absoluten nationalen Sicherheit begrüsst zu werden, setzten sie ihre Hoffnungen auf die Reise in die ägyptische Hauptstadt.
Präsident Morsi wird zur Schlüsselfigur
Zu ihrer Überraschung erlebten sie, dass Mohamed Morsi als politischer Repräsentant der Moslembrüder nach einem Ausgleich zwischen der Abhängigkeit von Europa wie den USA und der Rolle Ägyptens als arabisch-islamischer Führungsmacht sucht. Mit ihrer Pendeldiplomatie bestätigt die internationale Staatengemeinschaft erneut den Vorwurf, dass sie auf Verschiebungen von Kräfteverhältnissen nicht vorbereitet ist und dem Krisenmanagement näher steht als einer politischen Strategie, die über Reaktionen auf die notorischen Unwägbarkeiten in der Region hinausreicht.
Nachdem die Autonomiebehörde in Ramallah bei der eigenen Bevölkerung jegliche Autorität verloren hat, scheinen ihre Tage gezählt zu sein. Paradoxerweise kann sie nur noch von aussen, von den USA und von der Europäischen Union, gerettet werden. Denn in der Westbank schwinden ihre politischen Gestaltungsspielräume dramatisch. Vor Ort rühmte der deutsche Aussenminister zwar noch einmal die internationale Unterstützung jener «Kräfte, die den palästinensischen Staat auf friedlichem Weg erreichen wollen». Doch im selben Atemzug kündigte er die Ablehnung des zweiten UN-Antrags an, mit dem die Palästinenser auf die Beobachterrolle eines non-member state hinarbeiten wollen. Geradezu folgerichtig forderte Westerwelle die Ägypter auf, für den Gazastreifen eine «Entwicklungsperspektive» zu eröffnen. Ahnte er das Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung, wenn er sich von der Autonomiebehörde in Ramallah lossagte und Kairo ermutigen wollte, für 1,7 Millionen Palästinenser die volle Verantwortung zu übernehmen?
Fehlende politische Vision für den Nahen Osten
In Berlin und anderswo sollte endlich verstanden werden, dass Juden und Araber zwischen Mittelmeer und Jordan die natürlichen Verbündeten im Nahen Osten sein müssten, nachdem die arabischen Regierungen über politisch wertlose Solidaritätserklärungen nicht hinausgekommen sind und ihre Friedensinitiative von 2002 Makulatur ist – woran beileibe nicht nur Israel die Schuld trägt. Vielleicht dient die neutrale Schweiz den anderen Europäern am 29. November – in Erinnerung an die virtuelle Unabhängigkeitserklärung Palästinas Mitte November 1988 in Algier und an das exakte Datum des UN-Teilungsplans von 1947 – als Vorbild, wenn der Bundesrat der Empfehlung der Aussenpolitischen Kommission folgt, den palästinensischen Antrag in der UN-Generalversammlung gutzuheissen.
Im arabischen Raum gehört die Zukunft dem politischen Islam, dessen Flügel um institutionelle Legitimität ringen: hier die moderate Partei für Freiheit und Gerechtigkeit Morsis, dort die Partei Das Licht der Salafisten. In Israel werden die religiösen Gewichte in Regierung und Gesellschaft weiter wachsen, bei denen die politische Vernunft auf der Strecke zu bleiben droht. In dieser Stimmungslage, die auch eine Bodenoffensive in Kauf nimmt, erschien der Aufruf «Wir müssen reden» der Autoren um Amos Oz, A.B. Yehoshua und Josua Sobol an die Adresse Benjamin Netanjahus wie ein erratischer Irrläufer.
Im Gazastreifen haben die israelischen Vergeltungsschläge nach den Raketenabschüssen auf Israels Süden dafür gesorgt, dass die Hamas Einigkeit mit den Radikalen demonstrieren musste. Die beste Methode, die Bewegung des Islamischen Widerstandes mit Ismail Haniyeh an der Spitze politisch einzubinden, wurde im Westen vertan: Sie hätte sich um eine Strategie gekümmert, zu deren Nutzniessern der ägyptische Präsident Morsi gehört, obwohl ihm seit der Wahl 2011 die Erfolge im Innern um Rechtsstaat, verfassungsmässige Ordnung und Wahrung des religiösen Toleranzgebots bislang versagt geblieben sind.
Waffenruhe allein ist noch keine Lösung
Die am Abend des 21. November in Kairo verkündete Waffenruhe, sollte sie anhalten, ist bei weitem kein Modell für den dauerhaften Frieden, zumal wenn ihre Grundlagen zu gegensätzlichen Interpretationen einladen: Kommt es zur israelischen Aufhebung der Blockade des Gazastreifens? Kann Hamas ihren militärischen Arm, die Qassam-Milizen, und den Islamischen Djihad bändigen? Die jüngsten Anschläge in Rishon le-Zion und in Tel Aviv beweisen, dass sie die Kontrolle verloren hat. Und wer endlich kontrolliert die Waffenruhe?
Politisch substantielle Initiativen aus dem Westen dürften auch künftig verpuffen, weil nach allen bisherigen Erfahrungen schon ihre Ankündigung in der Region nicht ernst genommen wird. Zwar bewegt sich das Pendel der Diplomatie im Nahen Osten erneut. Aber die Probleme werden damit nicht kleiner. Dafür sorgen die innerarabischen Rivalitäten und die tiefe Asymmetrie, die das Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern kennzeichnet.