In einem früheren Artikel (24.12.2013) habe ich mich über den „faulen Frieden“ zwischen Wissenschaft und Religion geäussert. Ich bezog mich dabei auf den „westlichen“ Kulturkreis. Ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger aber erscheint heute die Debatte über die Kluft zwischen westlicher und islamischer Auffassung von Wissen.
Die Legende vom ersten Mondfahrer
Über Neil Armstrong, den ersten Menschen auf dem Mond, erzählt man sich unter Muslimen eine hübsche Legende. Als er seinen Fuss auf den Mondboden setzte, vernahm er Stimmen, aber er verstand sie nicht. Dann jedoch, ein paar Monate später, hörte der Astronaut während eines Besuchs in Kairo die Gebetsrufer von den Minaretten. Armstrong, der kein Arabisch verstand, fragte die Leute, was die Worte bedeuteten: „Gott ist grösser, unvergleichlich gross“, erklärten sie ihm, ,,ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt ausser dem einen Gott …“ Und Armstrong erkannte, dass dies die Stimmen waren, die er auf dem Mond gehört hatte, und er wurde Muslim. Der erste Mensch auf dem Mond war ein Muslim!
Der Geist der Forschung
Si non è vero è ben trovato. - Die Anekdote bringt einen Aspekt des tiefen Hiatus’ zwischen „westlichem“ und „östlichem“ Geist zum Ausdruck, der im Grunde viel irritierender ist als jener zwischen den „zwei Kulturen“. 2009 feierte man im Westen den 40. Jahrestag der Mondlandung – im Osten blieb es still. Das nahm Abdel-Moneim Said, Direktor des Al-Ahram Centre for Political and Strategic Studies in Kairo, zum Anlass, die selbstkritische Frage zu stellen, warum dieser „giant leap for mankind“ in der arabischen Welt derart wenig Widerhall fand und findet. Seine Antwort: Weil es der arabischen (muslimischen) Mentalität an jenem „Geist des Forschens“ gebricht, der die wissenschaftliche Neugier auf Touren brachte. Nun wird allerdings unter muslimischen Intellektuellen – vor allem im Westen – schon seit langem das Bedürfnis einer „Renaissance“ des Islam im Geiste seines rationalistischen Erbes geäussert. In den 1980er Jahren stiess etwa der pakistanisch-britische Publizist Ziauddin Sardar eine Diskussion an, wie die muslimische Gesellschaft und Kultur im Geiste des Forschens reformiert werden könnte.
Pseudowissenschaftliche Koranblüten
Ein islamischer Sonderweg der Wissenschaft also? Zur Beantwortung dieser Frage kann es heute nicht mehr genügen, auf das „Goldene Zeitalter“ von Bagdad oder Andalusien im frühen Mittelalter zu verweisen. Die Frage ist vielmehr, wie sich der moderne Forschungsgeist mit dem Koran verträgt. Denn dieser enthält nach traditioneller Auffassung alles Wissen, das Gott dem Propheten und damit den Menschen offenbart hat. Also braucht man gar nicht nach Neuem zu forschen, sondern nur das Alte richtig zu deuten. Eine solche Haltung treibt heute bizarre Blüten in einem pseudo- und populärwissenschaftlichen Genre der Koraninterpretation. Spiegelverkehrt zu einer Tendenz im Westen, Wissenschaft als eine Art Ersatzreligion zu betrachten, sehen Muslime die Religion als eine Art Ersatzwissenschaft. Es gibt Bücher mit Titeln wie „Scientific Miracles in the Prophetic Sunnah“. Immer wieder hört man von „erstaunlichen Übereinstimmungen“ zwischen Koran und moderner Wissenschaft, von „Vorwegnahmen“ wissenschaftlicher Erkenntnisse in der heiligen Schrift. Ein pakistanischer Neuropsychiater zum Beispiel bringt es zustande, im Koran moderne Heilmittel für Diabetes, Tuberkulose, Magengeschwüre, Arthritis, hohen Blutdruck, Asthma, Durchfall und Lähmungen zu finden. Zu einigen Diskussionen Anlass gab etwa auch der Versuch des Physikers Mansour Hassab-Elabny aus Kairo, aus Mondumlaufbahn und –zeit mittels Koranversen die Lichtgeschwindigkeit zu „berechnen“. Das Resultat war erstaunlich genau.
Zwei unverträgliche Konzepte des Wissens
Dass es sich hier um Holzwege des Anschlusses an die wissenschaftliche Moderne handelt, erkennen kritische muslimische Intellektuelle selbst. Letzlich stehen sie vor dem Dilemma: Eine „islamisierte“ Wissenschaft ist keine Wissenschaft; und insofern sie eine Wissenschaft ist, ist sie nicht islamisch (das gleiche Problem haben übrigens auch „theistische“ Evolutionsbiologen). Zwei unverträgliche Konzepte des Wissens stehen sich gegenüber. Das eine (traditionelle) beruht auf der Gewissheit durch Offenbarung, das andere (moderne) auf der Revidierbarkeit durch Erfahrung. Der islamische „Wisser“ (alim) ist wesentlich ein religiöser Gelehrter, der sich natürlich auch mit Wissenschaft, Philosophie oder Literatur abgibt. Aber der erkenntnistheoretische Bruch zwischen beiden Konzepten in der Moderne kann nicht radikal genug eingeschätzt werden. Kern der Moderne ist ein Wissenskonzept, das die Fraglichkeit all dessen, was man weiss, nie aufgibt. Als müssig erweist sich deshalb auch die Diskussion darüber, ob und inwieweit der Westen dem islamischen Forschergeist des Mittelalters dieses oder jenes verdankt, solange man nicht den entscheidenden Geisteswandel in Betracht zieht, der sich im 17. Jahrhundert in Europa ereignete: die Säkularisierung des Weltrahmens. Ein „Bildungsdschihad“ in der islamischen Kultur wird deshalb solange nicht Platz greifen, als er nicht diese fundamentale konzeptuelle Kluft überschreitet – und damit implizite den Absolutheitsanspruch des Korans ins Visier nimmt.
Wissenschaft und Technik mit „muslimischem Gesicht“
Man könnte natürlich die Frage, warum Muslime nicht zum Mond fliegen, umkehren: Warum fliegen eigentlich Nicht-Muslime zum Mond? Warum hat die NASA derart viel Geld und Geist in ein Projekt gesteckt, das im Grunde den gewöhnlichen Amerikaner ebenso wenig interessiert wie den Muslim? Warum sollte man Forschungsprioritäten statt auf den Weltraum nicht gezielt auf lokale Probleme der Erde richten, z.B. auf erneuerbare Energien oder die Bewältigung von Krankheiten? Solche Fragen liefern seit dreissig Jahren Zündstoff für die Diskussion über eine adaptierte Technologie und Wissenschaft mit „muslimischem Gesicht“. In islamischen Gesellschaften finden sich meist wertvolle und unausgeschöpfte Ressourcen an lokalem Wissen und Können, die nur darauf warten, entdeckt und entfaltet zu werden: Expertise in Medizin, Agrikultur, Urbanistik, Architektur, in der Bewirtschaftung von natürlichen Ressourcen, Bewässerungssystemen. Gerade hier wäre eine Rückbesinnung auf alte Traditionen womöglich höchst bereichernd und nachhaltig. Und vor allem: emanzipierend.
Die Realität
Das klingt zumindest als Vision gut. Einstweilen aber sieht die Realität anders aus: statt „indigene“ Technikentwicklung Projekte, die auf internationales Prestige und politischen Poker abzielen, wie etwa Biotechnologie oder Nuklearforschung. Der Bau von Masdar City, einer kohlendioxidneutralen Modellstadt in Abu Dabi, ist nicht von Ideen des Koran, sondern des WWF (und gewiss auch der Tourismusindustrie) inspiriert. Die „Knowledge Villages“ und „Education Cities“, die mit Ölmilliarden in den arabischen Wüstensand gesetzt werden, sind Fassaden westlicher Forschungsinteressen.
Der westliche Sonderweg
Die Frage nach einem islamischen Sonderweg wirft ein Licht zurück auf den westlichen. Diskurs bestimmende Philosophen wie Jürgen Habermas haben bekanntlich ein „postsäkulares“ Zeitalter ausgerufen. Seit einem halben Jahrhundert unterzieht sich der Westen einer fundamentalen Selbstkritik, um nicht zu sagen: einer Selbstkasteiung der Vernunft. Ich denke hier an Max Horkheimers und Theodor Adornos „Dialektik der Aufklärung“, welche unter anderem den zweiten Weltkrieg als Kulmination dessen zeichnete, was wissenschaftlich-technische Rationalität „im Keim enthält“. An die Stelle einer solch exaltierten Wissenschaftskritik muss heute ein Reflexiv-Werden von Wissenschaft und Technik treten, korrespondierend zum „Reflexiv-Werden des Religiösen“, das nach Bassam Tibi die Moderne charakterisiert. Eines wird man indes bei aller Reflexivität sagen können, ohne die islamische Vernunft zu schmälern: der westliche Weg der wissenschaftlichen Rationalität ist ein einmaliger Sonderweg.
Lokale und globale Probleme
Die Überbrückung der Kluft zwischen den kurz skizzierten Wissenskonzepten ist nicht möglich. Aber vielleicht sollte man das auch nicht zu sehr dramatisieren. Statt über westliche und islamische Sonderwege zu diskutieren erschiene es angezeigter, sich Gedanken zu machen über gemeinsame Probleme. Wie der prominente iranische Philosoph Abdulkarim Soroush schreibt: „Wir Muslime haben zwei Arten von Problemen: Lokale und universelle, die die ganze Menschheit betreffen. Deshalb bin ich der Meinung, dass Muslime gewisse Probleme als globale betrachten und sie auf dieser Ebene angehen sollten, um lokal ernten zu können, was sie universell gesät haben. Wir sollten darin besser werden, verschiedene Wahrheitsansprüche in Einklang zu bringen.“
Es gibt nicht „die“ Vernunft, sondern kosmopolitische Zivilisiertheit
Kluge Worte - dornig daran ist nur, dass das Projekt, verschiedene Wahrheitsansprüche in Einklang zu bringen, nicht mehr an „die“ Vernunft als universelle Berufungsinstanz appellieren kann. Die Postmoderne hat diese Idee verabschiedet – und eine Leerstelle hinterlassen. Die Welt ist in Stücken. Und genau das lässt die gegenwärtige Lage so grotesk erscheinen. Viele der akuten Probleme – Klima, Umwelt, Energieversorgung, Armut, Gesundheit, Ernährung - verlangen nach einer „globalen“ Vernunft. Aber der politische Diskurs ist geprägt vom „Lokalismus“ der Kulturen: vom Anspruch auf kulturelle Sonderwege und Identitäten. Hier ist ein Memento dringend angebracht: Jede Kultur, die diesen Namen verdient, entwickelt Kompetenzen, sich von ihren Partikularitäten zu lösen, sozusagen aus sich selber, über sich selber hinaus zu steigen: Kompetenzen kosmopolitischer Zivilisiertheit. So gesehen, müssten wir aber alle – ob im Zeichen der Mondfahrt oder der Mondsichel - erst noch zivilisiert werden.