Guillaume ist die Güte selbst, Christ und zutiefst gläubig. Der in Mali geborene Agraringenieur, Mitte 50, hat die letzten Jahre dank eines von der Stadt Paris subventionierten Jobs als Mitarbeiter in einem „Haus der Vereine" mit knapp 1000 Euros im Monat überlebt. Vor wenigen Monaten hat er diesen Job gekündigt und war froh, weil er endlich ein international finanziertes Agrarprojekt in seinem Land gefunden hatte, für das er arbeiten konnte.
Doch im selben Moment brach der malische Staat nach und nach in sich zusammen, ein Putsch jagte den nächsten, von den USA ausgebildete Elitesoldaten mit rund 1600 Mann schlugen sich auf die Seite der Rebellen im Norden und für das Agrarprojekt gab es keine Ansprechpartner mehr. In Paris war Guillaume den Job los und in Mali, in seinem Heimatland, ging auch nichts mehr.
Warum man Guillaume nach Wilhelm dem Eroberer oder dem deutschen Kaiser benannt hat, bleibt unklar. Doch er war dieser Tage, trotz allem, was ihm widerfahren war, stolz und überglücklich, «dass ihm seine Tochter die Ehre erwiesen hat», wie er sagte, ihrem neugeborenen Sohn den Namen ihres Vaters zu geben. Nun musste er aber unbedingt nach Mali und seinen ersten Enkelsohn sehen.
Natürlich hatte er nicht das Geld für das Flugticket – doch die Gemeinschaft der Malier in Frankreich ist solidarisch, sie leiht und teilt. Letzte Woche hatte Guillaume dann einen Platz auf einem der Flüge von Paris nach Bamako gefunden. Er weiss, dass er bei seiner Tochter in der Hauptstadt Malis bleiben wird, seine Heimatstadt Segou liegt zwar noch nicht im umkämpften Gebiet, jedoch auf der Hauptstrasse in den Norden Malis und ist von Flüchtlingen überschwemmt. Er hat versprochen, vorsichtig zu sein.
Die Bande zwischen Frankreich und Mali
Männer und Frauen wie Guillaume gibt es in Frankreich rund 120‘000, die Pariser Vorstadt Montreuil, gleich hinter der Ringautobahn, beherbergt fast 10‘000 von ihnen, das Konsulat Malis befindet sich praktischerweise gleich in der Nachbarvorstadt Bagnolet. Die in Frankreich lebenden Malier sind bekannt dafür, dass sie in ihrer Gemeinschaft vieles miteinander teilen, eine althergebrachte Solidarität weiter praktizieren und viele von ihnen bis zu 50 % ihres Gehalts ins Mutterland überweisen. Ja, diese Überweisungen von Emigranten sind in Mali selbst einer der wichtigsten Posten im schmalen Bruttosozialprodukt.
Als Frankreichs Präsident Hollande vor über einer Woche beschloss, die Streitkräfte des Landes in Mali eingreifen zu lassen, spielte auch die Präsenz von Maliern, wie Guillaume, in Frankreich eine Rolle, ebenso wie die von 6‘000 Franzosen in Mali.
Welche Kriegsziele?
Zunächst ging es offiziell nur darum, den Vormarsch der radikalislamistischen Rebellen Richtung Süden im letzten Moment zu stoppen. Doch sehr schnell bombardierte die französische Luftwaffe die Stellungen und Hochburgen der Islamisten weit im Norden Malis. Gleichzeitig heuchelte man, Frankreichs Streitkräfte seien interveniert, um die malischen Truppen zu unterstützen, die - wie eigentliche alle wissen – de facto seit Monaten so gut wie gar nicht mehr existieren.
Mitte letzter Woche erschienen dann französische Bodentruppen in Mali und gestern sagte der Verteidigungsminister doch tatsächlich, es sei das Ziel, den gesamten Norden Malis zu befreien! Dieser Norden ist aber zwei Mal so gross wie Deutschland. Spätestens wenn man sich dies vergegenwärtigt, wird verständlich, warum die diplomatische Chefkorrespondentin der Tageszeitung „Le Monde“ einen ihrer Grundsatzartikel letzter Woche mit den Worten überschrieben hat: „Das 'Sahelistan' des François Hollande“.
Erste Kritik
Altpräsident Giscard d'Estaing kritisierte, der Einsatz werde auf dem afrikanischen Kontinent als neokolonialistischer Akt gesehen. Ex-Aussenminister de Villepin hatte schon vor Tagen betont, keine einzige Bedingung für einen Erfolg der französischen Aktion in Mali sei gegeben und wandte sich einige Tage später vehement gegen die Logik eines „Kriegs gegen der Terrorismus“, der hinter dem französischen Militäreinsatz stecke. „Leider“, so de Villepin, „gibt es Erfahrungen, die sich wiederholen. Seit 12 Jahren, seit September 2001, scheitern sämtliche Koalitionen des Westens auf sämtlichen Schauplätzen der Welt gegen kleine terroristische Gruppen. Wir machen uns schuldig, wenn wir nicht stärker über die Wiederholungen unseres Scheiterns nachdenken - haben wir denn zum Beispiel in Afghanistan gewonnen, wo unsere Armee am Anfang als Befreier begrüsst wurde?"
Und die Chefin der Nationalen Front Marine Le Pen sagte, was die Spatzen schon seit Monaten von den Dächern pfeifen. Eine für Frankreich reichlich vertrackte Situation. „Die französische Armee“, so Marine Le Pen, „repariert derzeit in Mali die Folgen der politischen und geostrategischen Fehler unserer führenden Politiker, sowohl unter Sarkozy als auch unter Hollande. Denn die UMP-Partei und die Sozialisten waren damit einverstanden, in Libyen und in Syrien Krieg zu führen. Man muss aber wissen, dass diese Krieg dazu beigetragen haben, die Islamisten zu bewaffnen, die heute im Norden Malis sind.“
Immer noch sind laut Meinungsumfragen 65 bis 75 % der Franzosen mit dem Militäreinsatz in Mali einverstanden und die ersten Tage herrschte auch so etwas wie ein Klima der „Nationalen Einheit“ - wie stets, wenn Frankreichs Truppen irgendwo zum Einsatz kommen. Seit allerdings auch Bodentruppen auf dem Weg in den Norden Malis sind und nach dem extrem blutigen Ende der Geiselnahme in der Erdgasanlage im Süden Algeriens, scheint die bisher demonstrierte nationale Einheit, die die militärische Intervention begleitete, erste Risse zu bekommen, die Fragen über die Richtigkeit dieses französischen Militäreinsatzes werden häufiger und lauter.
Dass Frankreich nun Bodentruppen, die wahrscheinlich Monate in Mali bleiben werden, bevor afrikanische Truppen sie wirklich ablösen können, geschickt hat, wurde etwa vom früheren konservativen Vorsitzenden des aussenpolitischen Ausschusses offen kritisiert, der sagte: „Ich bin sehr, sehr reserviert, was die Anwesenheit französischer Kampftruppen auf malischem Boden angeht. Damit geht man zu weit, dort ist nicht unser Platz.“
„Wo ist Europa?“
Immer häufiger wird im Land mittlerweile auch darüber geklagt, dass Frankreich nach einer Woche in Mali de facto immer noch völlig alleine dasteht. Der konservative Abgeordnete, Lionel Lucas, merkte an: „Beim Libyeneinsatz gab es einen sehr starken Alliierten, die USA, und andere Nationen, die engagiert waren. Der Präsident der Republik hätte sich vielleicht vor dem Engagement in Mali der tatsächlichen Unterstützung anderer versichern sollen.“
Sein konservativer Parlamentskollege, der ehemalige Anti-Terrorrichter Alain Marseaud, macht sich dagegen erst gar keine Illusionen, was die Bereitschaft von anderen europäischen Staaten angeht, Frankreich wirklich zur Seite zu stehen: „Das ist nicht erstaunlich“, sagte er, „denn im Grunde hat ausser Frankreich niemand eine gemeinsame Geschichte mit Mali. Man kann nicht von den Deutschen, den Dänen, die nicht mal wissen, wo Mali liegt, oder von den Briten verlangen, mit uns zu intervenieren. Sie werden uns mal ein Flugzeug borgen oder ein paar Raketen, aber weiter wird es nicht gehen. Man kann das bedauern. Aber so ist es nun mal und das heisst aber auch ganz klar: Eine europäische Verteidigung gibt es nicht und wird es nie geben.“
Dass Alain Marseaud recht hat und Frankreich auf keine effiziente Unterstützung anderer EU-Ländern zählen darf, kann man an den heuchlerischen Äusserungen der obersten EU-Hierarchie und wichtiger Partnerländer ablesen. Sie wiederholten dieser Tage quasi gebetsmühlenhaft, man sei bereit, das europäische Programm zu beschleunigen, das vorsah, 200 militärische Ausbilder nach Mali zu schicken, um dort den Grundstock einer funktionierenden Armee legen. Die Wenigen in der malischen Armee, die von diesen Europäern ausgebildet werden könnten, sind mittlerweile aber im Kampfeinsatz. Doch die EU-Bürokraten reden weiter, wie schon vor zwei Wochen, so als wäre in Mali inzwischen nichts passiert.
Hat sich Präsident Hollande übernommen?
Frankreichs Präsident, dem es bei seinem als historisch bezeichneten Staatsbesuch in Algerien kurz vor Weihnachten gelungen war, von Präsident Bouteflika erstmals überhaupt mit Überfluggenehmigungen für französische Bomber ein symbolisches Engagement im Kampf gegen die Radikalislamisten in Mali zu erreichen, schaut derzeit äusserst gespannt nach Algier, in der Hoffnung, dass die dramatischen Ereignisse der letzten Tage auf der Gasanlage an der Grenze zu Libyen, 1300 Kilometer südöstlich von Algier, einen echten Wandel der algerischen Position und ein klareres Engagement Algeriens gegen den islamistischen Terror in der Sahelzone zur Folge haben.
Währenddessen ist Algerien in eine extrem heikle diplomatische Situation geraten – aus den USA, aus Japan und Grossbritannien hagelt es harsche Kritik für das Vorgehen der algerischen Armee bei der blutigen Niederschlagung der Geiselnahme.
Doch niemand konnte angesichts der jüngsten algerischen Vergangenheit, des mehr als zehnjährigen Bürgerkriegs und Terrors in den 90-er Jahren mit mindestens 150‘000 Toten wirklich erwarten, dass Algeriens Machthaber und die Armee anders handeln würden. Die Spezialkräfte, die auf der Gasförderungsanlage zum Einsatz kamen, nennen sie im Land die „Eradiqeurs“ - die Ausradierer, darauf trainiert und eingestimmt, radikale Islamisten einen Kopf kürzer zu machen.
Frankreich hat es tunlichst vermieden, das kompromisslose Vorgehen der algerischen Sicherheitskräfte zu kritisieren, denn Paris geht in dieser Situation und dem traditionell mehr als heiklen Verhältnis zu Algier auf glühend-heissen Kohlen. Und Präsident Hollande weiss, dass der Einsatz in Mali – wenn überhaupt – kurz- und mittelfristig nur mit Unterstützung Algeriens erfolgreich sein kann.
Sorgen um Terrorakte in Frankreich
Wie gesagt: Über 100‘000 Malier leben in Frankreich, und nicht alle von ihnen haben unbedingt die Güte des eingangs vorgestellten Guillaume. Besonders die Malier, die über die doppelte Staatsangehörigkeit verfügen, sind für Frankreichs Geheimdienste und die Terrorabwehr ein einziges Kopfzerbrechen. Seit mindestens neun Monaten, seit Al Kaida im Maghreb und andere radikalislamistische Gruppen den Norden Malis – so gross wie Frankreich und Belgien zusammen – terrorisieren, ist bekannt, dass es eine Reihe von Individuen, die Rede ist von ca. 15, gegeben hat, die sich aus Frankreich auf den Weg in den Norden Malis gemacht hatten, um sich dort als Kämpfer für den heiligen Krieg ausbilden zu lassen. Von Frankreich nach Mali zu gelangen, ist um vieles einfacher, als die Reise ins ferne Pakistan anzutreten. Ebenso einfach ist es, aus Mali wieder nach Frankreich zurückzukommen, ohne besonders aufzufallen, vor allem für einen Franzosen malischer Herkunft.
Niemand in Frankreich, das seit 16 Jahren von terroristischen Anschlägen verschont geblieben ist, gerät deswegen in Panik. Angesichts von möglichen Terrorgefahren legen die Menschen hierzulande sogar eine quasi britische Gelassenheit an den Tag.
Und doch ist die malische Schiene für französische Lehrlinge in Sachen Terrorismus in den Augen der Pariser Behörden ein nicht zu unterschätzendes Problem. Selbst der besonnene und hoch kompetente Antiterror- Untersuchungsrichter Marc Trevidic warnt in einem dieser Tage erscheinenden Buch dezidiert vor dieser neuen und komplizierten Situation.