Seit Tagen gehen die Meldungen über eine geplante, eingetretene, aufgehobene, wieder begonnene und doch wieder abgebrochene Evakuation der Zivilisten und Kämpfer aus dem letzten kleinen Widerstandsreduit von Ost-Aleppo hin und her. Dort – in etwa 2,5 Quadratkilometer Ruinen – sollen gegen 50‘000 Zivilisten zusammengedrängt sein, ursprüngliche Bewohner dieses letzten Stücks zerstörter Stadt, und zahllose Flüchtlinge aus den anderen Ostquartieren, die bereits von der syrischen Armee eingenommen sind.
Viele Kräfte mit unterschiedlichen Interessen
Die Zahlen sind natürlich nur Schätzungen der ungefähren Grössenverhältnisse. Die Zahl der Kämpfer ist noch ungewisser als jene der Zivilisten. Ein paar Tausend sind es zweifellos, doch vielleicht nur noch wenige Tausend. Ausserdem: Ist ein Kämpfer noch ein Kämpfer, wenn er keine Munition mehr besitzt und sein Gewehr auch nicht mehr mit sich trägt? Eine Uniform hatte er ohnehin nie getragen.
Das Hin und Her ist zurückzuführen auf die vielfachen Kräfte und Gruppen, die in Syrien wirken und unterschiedliche Interessen wahrnehmen wollen. Es gibt nicht nur die zwei Seiten im Bürgerkrieg: Pro-Asad Kräfte und Rebellen. Die Pro-Asad Kräfte teilen sich auf in syrische Armee und syrische Sicherheitskräfte (unter alawitischer Kontrolle) sowie russische Luftwaffe und „beratende“ Bodenkräfte, iranische Revolutionswächter und von Iran mobilisierte schiitische Milizen aus Iran, aus Afghanistan und aus dem Irak. Dazu kommt noch der libanesische Hizbullah, der ebenfalls Iran sehr nahe steht.
Unübersichtliche Rebellenkräfte
Auf der Gegenseite gibt es bekanntlich Hunderte von verschiedenen Milizen. Gerade in Aleppo hatten sich viele kleine Milizen unter ihren eigenen Anführern gehalten. Sie waren 2012 vom Land her in die Ostteile der Stadt eingedrungen, noch bevor es Nusra (heute „Eroberungsfront“) und Kaida in Syrien (heute IS) gab. Diese Kleinmilizen arbeiten zusammen, ohne unter einem Kommando zu verschmelzen.
Die Zusammensetzungen sind flüssig. Es gibt beständig neue Kombinationen. Die vorherrschende Entwicklung dabei ist, dass sich immer mehr der kleinen und ursprünglich nicht radikal islamistischen Gruppen der Ex-Nusra Front anschliessen, die sich heute „Eroberungsfront der Levante“ nennt und zu den von der Aussenwelt als terroristisch eingestuften Gruppen gehört. Die Anziehungskraft dieser Front beruht darauf, dass sie im Bündnis mit anderen ein eigenes Territorium beherrscht (die Provinz Idlib) und dass sie relativ wohl bewaffnet, kampfentschlossen und wohlhabend ist.
Der IS, der ebenfalls zu den Rebellen gezählt werden muss, steht für sich alleine, heute weitgehend in der Defensive. Jedoch war er kürzlich in Palmyra erfolgreich, als er die syrischen Truppen von dort vertrieb.
Zwei belagerte schiitische Dörfer in Idlib
Einer der Gründe für das Stocken der bereits angesagten und vorbereiteten Evakuation aus Aleppo war die Lage in der Provinz Idlib. Dort gibt es zwei schiitische Dörfer, Kafraya und Foah, die seit Jahren von den Rebellenkräften belagert werden. Als am Mittwoch die grünen Busse für die ersten Evakuationen mit laufenden Motoren vor Aleppo bereitstanden, kam die Weisung aus Damaskus: Einhalten!
Damaskus erklärte, auch Kafraya und Foah müssten evakuiert werden, wenn die Räumung von Aleppo vorangehen solle. Die Evakuation der beiden mehrheitlich schiitischen Dörfer (es handelt sich um 12er Schiiten, wie die Iraner es sind, nicht um Alawiten, die in Syrien eine viel grössere Minderheit bilden) waren schon 2015 Gegenstand von Verhandlungen. Doch diese Versuche zur Räumung der beiden Dörfer von den Rebellen schlugen mehrmals fehl. Man darf vermuten, dass es die Iraner sind, die in Damaskus darauf drängen, dass diesmal die Räumung der beiden schiitischen Ortschaften durchgesetzt werde.
Wer ist Vertragspartner?
Nach Verhandlungen über die beiden Ortschaften hiess es, auch ihre Räumung sei nun garantiert. Doch ist unklar, wer eine solche Räumung auf der Rebellenseite verbindlich zusagen kann. Es war die Rede von einer Vermittlungsrolle der Türkei, die sich ihrerseits mit Russland verständigt habe.
Die mit Ex-Nusra verbündeten Gruppen standen bisher der Türkei eher nahe, Nusra jedoch nicht. Daher ist undurchsichtig, über wieviel Gewicht Ankara heute in Idlib verfügt. Ex-Nusra ist dort die führende Macht. Ein Vertrag über die beiden Dörfer wurde offenbar geschlossen, doch von wem genau auf der Rebellenseite ist unklar. Dass in den beiden Dörfern eine Evakuation stattgefunden oder begonnen habe, wurde nicht gemeldet.
Ein zweiter Anlauf und zweiter Stopp
Nach diesem „Vertrag“ über Kafraya und Foah begann am Donnerstag erneut die Evakuation in Aleppo. Einige Busse, anscheinend mit Zivilisten, andere auch mit Kämpfern, konnten Aleppo verlassen, sie waren unterwegs Richtung Provinz Idlib. Doch ob und wie viele von ihnen dort angekommen sind, wissen wir nicht.
Dagegen wurde am Freitag gemeldet, die Räumung sei wieder eingestellt worden „auf Befehl der Russen“. Es gab unterschiedliche Begründungen dafür. Damaskus meldete, die Kämpfer hätten versucht, „gefangene Zivilisten“ auf ihre Transporte mitzunehmen. Der Sender von Hizbullah meldete, Schüsse und Explosionen hätten stattgefunden und die Busse gezwungen zurückzukehren. Ausserdem habe es „Demonstrationen" von Leuten gegeben, die die Busse blockieren wollten, bis Kafraya und Foah auch geräumt seien.
Ein russisch-tükischer Frieden für Syrien?
Die Russen gaben sich optimistisch. Der zuständige russische General für Aleppo, Generalleutant Viktor Poschnikir, erklärte der Agentur Tass vor dem erneuten Abbruch, es gebe keinen Widerstand mehr, alle Quartiere befänden sich im Besitz der syrischen Offensive. Schon 6‘400 Personen seien in den ersten fünf Konvoys evakuiert worden, darunter 3‘000 Rebellen.
Putin erklärte auf einem Besuch in Japan: „Ich und Recep Tayyip Erdoğan sind übereingekommen, Friedensgespräche über Syrien in Astana (Kasachstan) durchzuführen.“ Die türkischen Medienberichte ergänzten dies. Die Türkei, so schrieben sie, werde einen Sicherheitskorridor für alle bewaffneten Gruppen garantieren, die ihre Waffen niederlegten. Russland und die Türkei seien übereingekommen, die Einheit Syriens zu stützen und gemeinsam gegen den Terrorismus zu kämpfen.
Die türkischen Zeitungen meldeten auch, die Türkei habe den Ort für ein Lager für syrische Flüchtlinge innerhalb Syriens festgelegt, das 80‘000 Personen aufnehmen solle. Die Türkei ist in der Lage dies zu tun, weil sie Truppen und syrische Hilfstruppen in einem Sektor südlich der türkischen Grenze in Syrien stehen hat. Diese Truppen sollen, nach dem Meldungen aus Ankara, den seit Wochen umkämpften Flecken al-Bab (nordöstlich von Aleppo) in Besitz genommen haben. Bisher war al-Bab vom IS gehalten worden. Für die Türken ist die Einheit Syriens insofern wichtig, als sie das Entstehen eines kurdischen Staates oder Teilstaates an ihrer Südgrenze verhindern wollen.
Damaskus will ganz Syrien, nicht Frieden mit „Terroristen“
Damaskus gibt sich wenig gewillt, einer Friedensverhandlung zuzustimmen. Für Damaskus sind alle Rebellen Terroristen, die niedergekämpft werden müssen. Verhandlungen mit ihnen sind blosse taktische Manöver, bei denen es um die Räumung von Ortschaften und Teilgebieten gehen kann. Das erklärte Kriegsziel ist jedoch nach wie vor die Rückgewinnung des ganzen Landes für Asad.
Wie weit die angedeuteten Friedensverhandlungen ein ernsthaftes Ziel der Russen sind, ist ungewiss. Möglicherweise reden sie nur darüber, um den Anschuldigungen und Klagen der westlichen Mächte und auch des Uno-Generalsekretärs entgegenzutreten und konstruktiv erscheinende Pläne vorzulegen.
Man kann in dem Vorschlag jedoch auch einen Versuch sehen, die amerikanisch-europäische Seite aus allen Friedensverhandlungen über Syrien auszuschliessen und den künftigen Frieden unter russisch-türkischer Aufsicht auszuhandeln. Ein solcher russisch-türkisch vermittelter „Frieden“, würde – sogar wenn er auf einem „Friedensvertrag“ beruhte – in der Praxis die Herrschaft Asads fortsetzen und mit ihr die Macht und die Aktivitäten seiner Geheimdienste, die sich der entwaffneten Rebellen auf ihre Art annähmen.
Der Westen ringt klagend die Hände
Die amerikanisch-europäische Seite ist mehr und mehr auf die Rolle eines untätig Klagenden zurückgestellt. Die Uno und die Europäer sowie die Obama Regierung sprechen von Kriegsverbrechen in Aleppo. Es gibt Berichte darüber, dass 82 Zivilisten von syrischen Soldaten erschossen worden seien. Die Russen dementieren dies. Kerry merkte an: „Wir wollen kein zweites Srebrenica!“ Doch geschieht nichts, um das auszuschliessen.