Im Mittleren Osten haben die USA ihre Rolle als führende Weltmacht eingebüsst; sie sind jetzt nur noch Feuerwehrleute. Die Feuerwehr interveniert erst, wenn es lichterloh brennt. Oft ist es dann schon zu spät.
Die neue Rolle Washingtons wird illustriert durch den gegenwärtigen Besuch des amerikanischen Verteidigungsministers Ashton Carter in der Region. Am vergangenen Freitag besuchte er Ankara. Es folgte ein Abstecher nach Bagdad und eine Tour durch die Golfstaaten. Via Paris und Brüssel wird er in die USA zurückfliegen. In Paris trifft er die „Freunde Syriens“, und in Brüssel nimmt er an einer Versammlung der Nato-Minister teil.
Türken auf irakischem und syrischem Boden
Gleich zwei Brandherde gibt es: Zum einen droht der Konflikt zwischen den syrischen Kurden und der Türkei zu eskalieren. Und gleich daneben: Zwischen dem Irak und der Türkei gibt es Streit. Bagdad und Damaskus haben es der Türkei verboten, auf irakischem und syrischem Boden in den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) einzugreifen. Trotzdem tun dies türkische Kampfeinheiten.
Carter versuchte, seine beiden Verbündeten zu beruhigen. Den Türken sagte er zu, dass sie eine Rolle „bei der Bekämpfung des IS“zu spielen hätten. Bagdad wollte er überzeugen, dass eine türkische Mitwirkung in der Schlacht um Mosul legitim und nützlich sei.
Kampf um al-Bab
Nichts verlautete darüber, welche Haltung die USA gegenüber den syrischen Kurden einnehmen. Die YPG, die „Volksverteidigungseinheiten“, also die Kampftruppen der syrischen Kurden, werden in ihrem Kampf von amerikanischen Flugzeugen unterstützt. Anderseits werden sie von der türkischen Luftwaffe, Panzern und türkischen Hilfstruppen angegriffen. Auf die Fragen von Journalisten wollte Carter zu diesem Thema keine Stellung nehmen.
Doch als Carter Ankara verliess, erklärte Präsident Erdoğan, die Türkei sei „verpflichtet“, die vom IS besetzte syrische Stadt al-Bab nordöstlich von Aleppo zu erobern und zu besetzen. Al-Bab liegt am Rande des syrischen Grenzstreifens, den die Türkei seit dem August besetzt hält. Dieser Streifen ist nur 1’270 Quadratkilometer gross und soll offensichtlich verbreitert werden. Doch auch die Kurden wollen al-Bab erobern und der Türkei zuvorkommen.
Lokale Helfer
In Syrien werden die Türken von Milizen der FSA, der „Freien Syrischen Armee“, mit Panzern, Artillerie- und Luftangriffen unterstützt. Die FSA-Kämpfer wurden in der Türkei geschult.
Aber auch die Kurden verfügen in Syrien über lokale Helfer: Sie haben eine Miliz aufgestellt, die sich SDF nennt (Syrische Demokratische Kräfte). Diese besteht aus lokalen arabischen Truppen, die sich mit lokalen, syrischen Kämpfern mischt.
Die Kurden, unterstützt und bekämpft
Während sich Carter in Ankara aufhielt, meldete die türkische Armee, ihre Luftwaffe habe 72 Positionen des IS und 50 Stellungen der kurdischen YPG angegriffen.
Seit der Schlacht um die syrische Grenzstadt Kobane, die vom September 2014 bis Ende Januar 2015 stattfand, sind die syrischen Kurden mit den USA verbündet. Amerikanische Kampfflugzeuge stehen den syrischen Kurden immer wieder bei, wenn sie im Kampf gegen den IS stehen. Doch die gleichen Kurden werden vom Nato-Staat Türkei als Feinde und Terroristen eingestuft und ebenso bitter bekämpft wie der IS.
Amerikanische Schlichtung
Der zweite Brandherd liegt geich daneben im Irak. Carter versuchte offensichtlich, den Streit zwischen der Türkei und dem Irak über die Präsenz türkischer Truppen nordöstlich von Mosul zu schlichten. In Washington erklärte ein Beamter des Verteidigungsministeriums:
„Wir haben mit dem Irak und der Türkei verhandelt, um zu versuchen ein Einverständnis über die Präsenz der Türkei im Irak zu erreichen und darüber, wie der Vormarsch gegen Mosul ablaufen soll.“
„Wir wollen mit den Türken zusammenarbeiten“
Carter sagte in Bagdad: Dabiq sei ein wichtiges Ziel gewesen und die Türken hätten es „spektakulär erreicht“. Der kleine Ort Dabiq nordöstlich von Aleppo hat symbolische Bedeutung für den IS. Laut islamischen Prophezeiungen soll in Dabiq eine „Endzeitschlacht“ zwischen Christen und Muslimen stattfinden. Sie soll mit dem Sieg der Muslime enden.
Carter erklärte: „Wir wollen mit ihnen (den Türken) zusammenarbeiten, um die Grenzregion zu konsolidieren. Dies ist ihr und unser Ziel, und es ist sehr wichtig im Krieg gegen den IS.“
Amerikanisches Versprechen nicht eingehalten?
Doch nach der Abreise des amerikanischen Besuchers aus der Türkei sagte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim, die Türkei müsse im Irak eingreifen, denn die USA und die Iraker hätten ihre „Versprechen“ nicht eingehalten. Sie hätten zugesagt, dass weder die schiitischen Milizen noch die Kurden „am Feldzug gegen Mosul“ beteiligt würden. Doch beide seien an der jetzigen Offensive auf Mosul beteiligt. Die Türkei habe unter diesen Umständen dafür zu sorgen, dass die Schiiten kein Gemetzel in Mosul anrichteten.
Der Wortlaut der amerikanischen und irakischen „Versprechen" ist nicht bekannt. Man kann jedoch vermuten, dass sie zusagten, die Kurden und die Schiitenmilizen würden nicht an der „Besetzung von Mosul“ beteiligt sein. Yildirim dürfte dies breit auslegen und daher von „Mitwirken am Feldzug“ sprechen.
„Das erledigen die Iraker selbst“
Ashton Carter suchte offenbar einen Mittelweg zwischen den beiden sich streitenden Staaten. Er sagte in Bagdad: „Die Türkei hat ein Interesse daran, dass Mosul vom IS befreit wird. Viele andere Beteiligte auch. Es ist eine komplizierte Stadt.“
Doch als Carter Bagdad verliess, erklärte der irakische Ministerpräsident al-Abadi, offensichtlich wenig beeinflusst: „Ich weiss, dass die Türken mitwirken wollen. Wir sagen zu ihnen: Danke schön. Dies ist etwas, das die Iraker erledigen werden. Wenn wir Hilfe brauchen, werden wir die Türkei darum bitten, aber auch andere regionale Mächte!“ Als andere regionale Macht, die eingreifen könnte, kommt nur Iran in Frage.
Wachsender Widerstand in Mosul
In der Zwischenzeit tritt die Schlacht um Mosul in ihre entscheidende Phase. Zunächst war es den Kurden im Osten Mosuls und der irakischen Armee im Süden relativ leicht gelungen, Geländegewinne zu erzielen.
Jetzt wächst der Widerstand. IS-Kämpfer rasen immer wieder mit Lastwagen, die mit Sprengstoff beladen sind, in irakische und kurdische Truppenkonzentrationen hinein. Der Lastwagenfahrer, ein Selbstmordattentäter, bringt dann die Ladung zur Explosion. Diese Kampfführung ist eine Spezialität des IS.
Angriff auf Kirkuk
Auch in Kirkuk, weit hinter der kurdischen Front, führte der IS Selbstmordanschläge durch. Angegriffen wurde ein Polizeiposten sowie Einrichtungen der Regierung. Dabei kamen 35 Polizeibeamte und Zivilisten ums Leben. 120 Menschen wurden verwundet. Die Jihadisten griffen auch eine Baustelle eines von Iranern gebauten Kraftwerks nördlich von Kirkuk an. Einige iranische Bauarbeiter kamen dabei ums Leben.
Irakische Regierungskreise riefen für Kirkuk den Notstand aus und forderten Verstärkung aus Erbil an. Die Absicht des IS war offensichtlich: Er wollte die kurdische Front gegen den IS schwächen. Zudem wollten die IS-Jihadisten demonstrieren, dass sie weiter in der Lage sind, offensiv vorzugehen.
Schwefeldämpfe
Inzwischen haben IS-Kämpfer nicht nur Ölfelder, sondern auch eine Schwefelfabrik nördlich von Mosul in Brand gesteckt. Die giftige Wolke, die entstand, zwang die Amerikaner, die im Irak als „Berater“ der Armee dienen, zu den Gasmasken zu greifen.
Im Gegensatz zu den US-Beratern verfügen die irakischen Soldaten offenbar über keine Gasmasken. Nach Angaben der Agentur Reuters, hätten viele von ihnen die giftigen Dämpfe eingeatmet. Tausende befänden sich in Behandlung wegen Atembeschwerden.
Fluchtwege unter Beschuss
Die bevorstehende Schlacht um Mosul droht die Schlacht um Aleppo aus den Schlagzeilen zu vertreiben. Ein von den Russen verhängter einseitiger Waffenstillstand wurde zwei Mal verlängert, doch nach nur drei Tagen sprachen wieder die Waffen.
Die Russen und die syrische Regierung hatten Zivilisten und Kämpfer in Ost-Aleppo aufgefordert, die Stadt auf sicheren Korridoren zu verlassen. Doch nur wenige versuchten dies und mussten umkehren. Sie sagten, die Korridore seien nicht sicher, sondern stünden weiter unter Beschuss durch Scharfschützen. Die Russen warfen den Rebellen vor, sie verhinderten den Abzug der Zivilisten aus der belagerten Stadt. Doch nicht ausgeschlossen ist, dass es sich bei den Scharfschützen um Angehörige der Regierungsseite handelt.
Im Stillen wüten
Die Hilfswerke erklärten, sie hätten keine Verwundeten bergen und pflegen können. Auch sei es ihnen nicht gelungen, Hilfsgüter in die Stadt zu bringen, da die nötigen Sicherheitsgarantien gefehlt hätten.
Man muss daran erinnern, dass im September ein Hilfskonvoy von 18 Lastwagen bei Aleppo bombardiert worden war. Dabei waren 29 Menschen ums Leben gekommen, unter ihnen der Delegierte des Syrischen Roten Kreuzes für Aleppo, Omar Barakat. Die Russen waren für den Angriff verantwortlich gemacht worden, stritten jedoch jede Beteiligung ab.
Die Weltpresse und die Weltdiplomatie konzentrieren sich zurzeit auf die Ereignisse in Mosul. Dies erlaubt es den Russen und dem Asad-Regime – sozusagen im Stillen –, in Ost-Aleppo zu wüten, so wie es die Russen 1999 in Grozny getan hatten.