Der Verfasser hiess Thomas Morus, und sein Werk trug einen langen lateinischen Titel mit dem neuartigen Wort „Utopia“. Das Wort setzt sich aus dem Griechischen und Lateinischen zusammen und heisst soviel wie „Nirgendsland“. Der Autor konfrontierte die gesellschaftliche Realität seiner Zeit mit dem Fantasiebild einer insularen Gegenwelt, in der manches anders, und nicht selten besser und vernünftiger geordnet war.
In den folgenden Jahrhunderten entstand in Europa eine Utopienliteratur von variantenreicher Vielfalt. Sie erlaubte es ihren Autoren, indirekt Gesellschaftskritik zu üben, ohne vom Staat verfolgt oder von der Gesellschaft geächtet zu werden.
Eines der wichtigsten Werke dieser Gattung ist „Brave New World“ von Aldous Huxley, erschienen im Jahre 1932. Eine deutsche Übersetzung kam 1953 unter dem Titel „Schöne neue Welt“ heraus, und der Übersetzer hatte die unglückliche Idee, den Schauplatz der Handlung von London nach Berlin zu verlegen.
Nicht "Our Lord" sondern "Our Ford"
Huxley verpflanzt seine Utopie nicht auf eine ferne Insel, sondern in das London der Zukunft. Die Handlung spielt im 7. Jahrhundert nach der Geburt des Automobilherstellers Henry Ford, der in Detroit nach 1915 seine Autos vom Fliessband rollen liess. Ford ist für Huxley, was Gott früher für die Menschheit war: der Allmächtige, dem kein Ding unmöglich ist. Konsequent ist daher, dass die christliche Zeitrechung in seiner Utopie ausser Kraft gesetzt ist. Und konsequent ist auch, dass beim Gebet nicht „Our Lord“, sondern „Our Ford“ angerufen wird.
Im 7. Jahrhundert nach Ford, ums Jahr 2600 nach christlicher Zeitrechnung also, spielt Huxleys „Brave New World“. Den Forschern dieser Zeit ist es gelungen, künstlich Menschen zu erzeugen, welche in einer stabilen Gemeinschaft auf eine oberflächliche Weise glücklich dahinleben. Im „Fertilizing Room“ des „Central London Hatchery and Conditioning Centre“ werden in einem ausgeklügelten gentechnischen Verfahren, dem „Bokanovsky’s Process“, Kleinkinder ausgebrütet, die genau auf ihre künftige Rolle in der arbeitsteiligen, nach Kasten gegliederten Gemeinschaft programmiert werden.
Kein Neid, kein Ehrgeiz, keine Missgunst
Die Alpha-Babies übernehmen später Führungsaufgaben; die unterste Kaste der Epsylon-Babies wird zu niedriger Sklavenarbeit eingesetzt. Jedermann arbeitet gern. Niemand verspürt Lust, den Wirkungsbereich seiner Kaste zu überschreiten, und man ist daher frei von Neid, Ehrgeiz und Missgunst. „Unser ganzes Normungsverfahren“, sagt ein Abteilungsleiter des „Hatchery Center“, „verfolgt dieses Ziel: die Menschen zu lehren, ihre unumstössliche soziale Bestimmung zu lieben.“
Zahlreiche weitere Eingriffe sollen die Entstehung dieser Idealgesellschaft sicherstellen. Überbevölkerung kann vermieden, Bevölkerungswachstum kann gefördert werden. Wer für den Dienst in den Tropen vorgesehen ist, wird bereits im Kindesalter gegen Typhus und Schlafkrankheit geimpft.
Wer in chemischen Betrieben arbeiten wird, kann frühzeitig gegen schädliche Einwirkungen immunisiert werden. Durch milde Elektroschocks kann Kindern eine instinktive Abneigung gegen die Natur und gegen Bücher beigebracht werden, sodass sie später bei der für sie vorgesehenen Arbeit nicht abgelenkt werden. Ein wichtiges Programmierungsmittel ist die Hypnopädie, der Lernschlaf. Schlafenden Kindern werden über Kopfhörer in monotoner Wiederholung immer wieder elementare Regeln des Kastenbewusstseins oder Grundbegriffe des Geschlechtslebens eingetrichtert.
Munterer Partnertausch
Es versteht sich von selbst, dass in einer so programmierten Gesellschaft die Sexualität nicht mehr der Zeugung, sondern dem reinen Lustgewinn dient. Mutterschaft und familiäre Erziehung sind unnötig geworden. Christliche Religion und bürgerliche Moralvorstellungen haben ausgespielt. Munterer Partnertausch ist die Regel. Die Geschichte hat ihren Erfahrungswert verloren, und Bücher, die darüber berichten, sind nicht zugänglich und werden sorgfältig verwahrt. Krankheiten sind unbekannt; der Mensch bleibt im Vollbesitz seiner Kräfte bis zum Tod.
Die Arbeit verschafft solches Vergnügen, dass man der Musse und der Zeit zum Nachdenken nicht mehr bedarf. Will man sich unterhalten, betreibt man Liebesspiele und Sport, oder man begibt sich ins Fühlkino. Die Errungenschaften der Technik verkürzen den Angehörigen der oberen Kasten die Zeit; sie schwirren in Helikoptern und Raketen durch die Luft.
Die Wunderdroge Soma
Doch auch dieser Idealgesellschaft gelingt es nicht immer, dauerndes Glück herzustellen. Wenn einmal wider Erwarten ein Augenblick innerer Leere und Grübelei eintritt, behilft man sich mit einer grösseren oder kleineren Portion der Wunderdroge Soma. Soma-Tabletten vermitteln Rauschzustände, in denen man Ford huldigt und fühlt, wie die eigene Individualität sich im Kollektiv auflöst. Huxley beschreibt diesen Vorgang so: „Die zu diesem Zweck geweihten Soma-Tabletten wurden in die Mitte des Tisches gelegt, der Eintrachtskelch, gefüllt mit Erdbeereiscremesoda ging von Hand zu Hand und zwölfmal wurde mit dem Spruch ‚Ich trinke auf meine Auflösung‘ daraus getrunken. Dann sang man zu synthetischer Orchesterbegleitung die First Solidarity Hymn.“
Nicht alle Menschen dieser „Brave New World“ vermögen sich voll in Huxleys utopische Gesellschaft zu integrieren. So hat Bernard Marx infolge eines Brutdefekts eine zu geringe Körpergrösse und eine Neigung zur Einsamkeit erhalten, muss allzu oft zu Soma greifen und fühlt sich unter den Menschen der Alpha-Kaste als Aussenseiter.
Und Helmholtz Watson, ein hoch begabter Alpha-Plus-Mensch, der erfolgreicher Werbetexter und Verfasser von Fühlfilmdrehbüchern ist, vermag nicht ganz, an den Sinn seiner Arbeit zu glauben. Auch lässt Huxley einen Wilden aus einem Indianerreservat auftreten, der die Unzulänglichkeiten dieser utopischen Gesellschaft schonungslos aufdeckt. Es ist dies ein altbekannter Kunstgriff der Gesellschaftskritik, hatte doch schon Voltaire in einer seiner Erzählungen einen Huronen in der Bretagne an Land gehen lassen und mit der französischen Gesellschaft konfrontiert.
"Ich will Gefahren, Freiheit, Tugenden und Sünde"
Huxleys Wilder fühlt sich in der „Brave New World“ nicht wohl. Als das Personal des Park Lane Hospital for the Dying zusammentrifft, um die tägliche Portion Soma in Empfang zu nehmen, stört der Wilde mit dem Ausruf „Ich bringe Euch die Freiheit!“ die Versammlung und wirft Packungen mit Soma-Tabletten aus dem Fenster. In einem Gespräch mit dem obersten Aufsichtsrat der Brut- und Normzentrale Mustapha Mond tritt der Wilde für die Rechte des freien Individuums ein. „Ich brauche keine Bequemlichkeiten“, sagt er. „Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde.“ Tief verunsichert und dem Wahnsinn nahe, zieht sich der Wilde, von Reportern und einem Kamerateam verfolgt, in einen Leuchtturm in der Grafschaft Surrey zurück. Dort erhängt er sich.
Während Thomas Morus sich vor fünfhundert Jahren ein „Nirgendsland“ ausdachte, das in vieler Hinsicht als wünschenswerte Alternative zur Daseinsrealität seiner Zeit gelten konnte, lässt Huxley keinen Zweifel daran, dass sein Gesellschaftsmodell der wahren Bestimmung des Menschen nicht entspricht. Diese Bestimmung sieht Huxley – ein Humanist wie Morus, aber unter andern Zeitumständen - in der nur dem Menschen gebotenen Chance, seine Invidividualität in Freiheit auszubilden und in die demokratische Gesellschaft einzubringen. Eine Zukunft, welche dieses Ziel verfehlt, ist zwar jederzeit denkbar; Huxleys Utopie macht aber deutlich, dass sie weder erstrebens- noch lebenswert ist.
Der Albtraum totaler Organisierung
Dreissig Jahre nach dem Erscheinen seiner Utopie, im Jahre 1959, hat sich Huxley in der Schrift „Brave New World revisited“ die Frage gestellt, ob und inwieweit seine Utopie inzwischen von der Realität eingeholt worden sei. Er stellt fest, dass vieles, was er habe kommen sehen, rascher eingetreten sei, als er erwartet habe, wenn auch auf andere Art.
„Der Albtraum totaler Organisierung“, schreibt er, „den ich ins 7. Jahrhundert nach Ford verlegt hatte, ist aus der ungefährlich fernen Zukunft aufgetaucht und erwartet uns nun gleich um die nächste Ecke.“ In den Diktaturen Hitlers und Stalins sieht Huxley vieles von dem verwirklicht, was er vorausgesehen hat. Er weist auf die rhetorische Suggestivkraft von Hitler hin, der es verstanden habe, die Instinkte der normierten Massenmenschen anzusprechen. Auf die Tierversuche des russischen Biologen Pawlow anspielend, zeigt Huxley, dass sich Menschen in extremen Stresssituationen in ihrem Verhalten widerstandslos beeinflussen lassen. „Überall in der kommunistischen Welt“, schreibt er, „erzeugen Hunderte von Konditionierungszentralen Zehntausende von disziplinierten und hingebungsvollen jungen Leuten.“
Politische und kommerzielle Propaganda
Aber auch in der modernen Demokratie sei der Mensch Manipulationsversuchen ausgesetzt, die ihn zum Herdenmenschen machten und ihn das lieben liessen, was politische und kommerzielle Propaganda ihm als glücksbringend suggerierten. Huxley zögert nicht, gesetzliche Massnahmen zum Schutz des Individuums vor solcher Vereinnahmung zu fordern, die freilich ihrerseits wieder utopisch wirken. So solle etwa die Fernsehwerbung und ihr schädlicher Einfluss auf das Unterbewusstsein überwacht werden, und die Grosstadtbewohner sollten angewiesen werden in überblickbare Landgemeinden umzusiedeln.
„Brave New World“ ist nicht Huxleys bestes literarisches Werk, wohl aber sein berühmtestes. In geistesgeschichtlicher Hinsicht ist die Bedeutung des Buches im Zusammenhang mit der Diskussion von Fragen der Eugenik zu sehen. Diese wurden im Gefolge der bahnbrechenden Erkenntnisse von Darwins Evolutionslehre in der Zwischenkriegszeit lebhaft diskutiert.
Ethische Verantwortung der Forscher
War es möglich, so fragten sich die Naturwissenschafter, durch medizinische, psychologische, soziale und andere Einwirkung auf die menschliche Erbmasse eine qualitative Verbesserung, eine Veredelung der Rasse, zu erreichen? Eine wichtige Rolle in dieser Diskussion spielte Julian Huxley, der Bruder des Schriftstellers. Julian Huxley erkannte die Brisanz dieser Fragen und betonte die ethische Verantwortung der Forscher. Es blieb dem „Euthanasie-Programm“ der Nationalsozialisten vorbehalten, durch die Ausmerzung „unwerten Lebens“ eine „Entartung“ der Rasse verhindern zu wollen.
Ein Buch übrigens, mit dem „Brave New World“ oft verglichen wird, erschien 1949, trägt den Titel „Nineteen-Eighty-Four“ und stammt von George Orwell, dem wir in diesen Kolumnen im Zusammenhang mit dem Spanischen Bürgerkrieg schon begegnet sind. Es handelt sich ebenfalls um eine Anti-Utopie, die aber, im Gegensatz zu jener Huxleys, von der Erfahrung der Diktaturen Hitlers und Stalins ausgeht.
Und zum Schluss noch dies: Was würde wohl Aldous Huxley sagen, wenn er die Meldung läse, die kürzlich durch die Presse gegangen ist, nämlich dass es amerikanischen Forschern möglich geworden ist, menschliche Embryonen aus normalen Körperzellen zu klonen?