Da ereignet es sich, dass ein Arzt, Dr. Rieux, im Treppenhaus auf eine verendete Ratte stösst. Er misst dem Fund keine Bedeutung bei. Doch im Quartier und in der Stadt mehren sich die sterbenden Ratten, sie steigen aus den Kloaken hoch und krepieren zu Hunderten in den Rinnsteinen. Der Concierge im Hause des Arztes bekommt hohes Fieber, seine Lymphknoten schwellen an, und er stirbt nach qualvollem Leiden in wenigen Tagen. Immer mehr Menschen erkranken, zeigen dieselben Symptome, sterben. Man spricht von einer Epidemie. Rieux berät sich mit einem Kollegen, und sie kommen zu einem fatalen Befund. Die Behörden werden verständigt. Über Oran wird eine Quarantäne verhängt.
Das Buch, von dem hier die Rede ist, erschien im Jahre 1947 in Paris und trug den Titel „La Peste“. Der Verfasser, Albert Camus, wurde 1913 als „pied noir“, als Sohn eines einfachen französischen Landarbeiters und einer Spanierin, in Algerien geboren. Er war arm, aber begabt, erhielt ein Stipendium für das Lycée in Algier und studierte an der dortigen Universität. Er trat der kommunistischen Partei bei, verfasste erste Theaterstücke und arbeitete als Journalist. Nach dem Blitzsieg von Hitlers Truppen über Frankreich schloss sich Camus der „Résistance“ an und arbeitete, zuerst in Lyon und dann in Paris, für die Untergrundpresse. Im Jahre 1942 erschien, damals kaum beachtet, die Erzählung „L’Etranger“, ein in einfacher, lakonischer Sprache abgefasster Text, mit dem seither ungezählte Mittelschullehrer ihren Schülern Französisch beizubringen suchen.
„Die Pest“ wurde für Camus zum ersten grossen Bucherfolg; man schätzt, dass von der französischen Ausgabe gegen sechs Millionen Exemplare verkauft worden sind. Zum Roman sind verschiedene Vorstudien erhalten, und wir wissen, dass sich der Autor bereits in Algerien mit dem Stoff beschäftigte. Die bedrückende Erfahrung der Existenz im feindlich besetzten Frankreich ist aber sicherlich in die „Die Pest“ eingegangen. Die Seuche, ähnlich wie eine militärische Besatzung, dringt in sämtliche Lebensbereiche, auch in die privatesten, ein. Sie kann jeden jederzeit treffen, wie die Gestapo und die Schergen des Marschalls Pétain jederzeit zuschlagen konnten. Der Mensch wird auf sich selbst zurückgeworfen und gerät in eine Isolation, der er nicht entweichen kann; auch weiss er, dass auf keine Hilfe von aussen zu hoffen ist.
Camus wählt für seinen Roman die Form einer sachlichen Chronik durch einen vorerst nicht bekannten Erzähler. Vor der dunklen Folie der ausweglosen und todbringenden Bedrohung agieren die Figuren des Romans. Die beiden Hauptpersonen sind der Arzt Dr. Rieux und ein zugezogener Rentner, Jean Tarrou, über den niemand Genaueres weiss. Zu ihnen gesellt sich ein Pariser Journalist, Rambert, der zuerst alles daran setzt, aus der Stadt zu fliehen, um zu seiner Freundin zurückzukehren, sich dann aber entschliesst, mit Tarrou und Rieux bei der Betreuung der Pestkranken zusammenzuarbeiten. Die wichtigsten weiteren Figuren sind: der verhinderte Selbstmörder Cottard, welcher der Ausbreitung der Pest mit seltsamer Genugtuung folgt; der Angestellte der Stadtverwaltung Grand, der einen Roman schreiben will und nie über die ersten Sätze hinauskommt; der Richter Othon, dessen Kind an der Pest stirbt; der Geistliche Paneloux, der in seiner Predigt die Pest als gerechte Strafe für begangene Sünden darstellt, und dann, von der Krankheit heimgesucht, mit den Worten stirbt: „Gläubige haben keine Freunde; sie haben alles in Gott gesetzt.“
Diesen Gott gibt es für Rieux und Tarrou nicht. Ihr Kampf gegen die Pest ist keine gottgefällige Handlung, sondern ein Akt der Auflehnung und des Widerstandes gegen eine Bedrohung, die man als sinnlos, als absurd, empfindet. Tarrou bietet dem Arzt seine Mithilfe bei der Organisation eines städtischen Sanitätsdienstes an, obwohl er weiss, dass die Tätigkeit lebensgefährlich ist. Während der Monate, in denen die Pest die Stadt im Griff hat, arbeiten die beiden eng zusammen. In einem längeren Gespräch stellt Tarrou dem Arzt die Frage: „Glauben Sie an Gott?“ Und Rieux antwortet: „Nein. Aber was besagt das? Ich tappe im Dunkeln und versuche Klarheit zu finden. Ich habe schon lange aufgehört, das originell zu finden.“ Vordringlich sei jetzt, fährt der Arzt fort, seine Pflicht zu tun: „Im Augenblick sind da die Kranken, und sie müssen geheilt werden. Danach werden sie nachdenken und ich auch. Ich stehe ihnen bei, so gut ich kann. Das ist alles.“ Und weiter: „Da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es für Gott vielleicht besser, dass man nicht an ihn glaubt und mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu diesem Himmel zu erheben, in dem er schweigt.“
In einem weiteren Gespräch erzählt Tarrou dem Arzt von seinem Leben. Er spricht von seinem Vater, der als Staatsanwalt Todesurteile zu fällen hatte. Als Sohn dieses Vaters habe er sich eines Tages entschlossen, allem was „aus guten oder aus schlechten Gründen tötet, oder rechtfertigt, dass getötet wird“, entgegenzutreten. Für ihn sei die wichtigste Frage: „Kann man ein Heiliger sein ohne Gott?“ Darauf der Arzt: „Ich fühle mich mit den Besiegten solidarischer als mit den Heiligen. Ich glaube, ich finde keinen Geschmack am Heroismus und der Heiligkeit. Was mich interessiert, ist der Mensch.“
Dieses Gespräch, der Höhepunkt des Romans, stiftet eine tiefe Übereinstimmung zwischen den beiden. Es ist Abend, der Mond steht am Himmel, und die Männer gehen hinab zum Strand um gemeinsam ein Bad zu nehmen. „Wieder angezogen“ schreibt Camus, „brachen sie auf, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Aber ihre Herzen fühlten gleich, und die Erinnerung an diese Nacht war wohltuend für sie.“ Gegen das Jahresende klingt die Pest ab. Tarrou gehört zu ihren letzten Opfern. Rieux wacht am Bett des qualvoll Sterbenden. Camus schreibt: „Tarrou hatte, wie er sagte, die Partie verloren. Aber was hatte er, Rieux, gewonnen? Er hatte nur gewonnen, die Pest gekannt zu haben und sich daran zu erinnern, die Freundschaft gekannt zu haben und sich daran zu erinnern, die Zuneigung zu kennen und sich eines Tages daran erinnern zu dürfen. Alles, was der Mensch beim Spiel der Pest und des Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnis und Erinnerung.“
Die Pest ist besiegt, die Tore der Stadt werden geöffnet, die Menschen, die überlebt haben, tanzen auf den Plätzen. Am Schluss des Romans erfährt der Leser, dass es Dr. Rieux war, der die Chronik der Ereignisse aufgezeichnet hat. Die Solidarität mit seinen Mitbürgern, berichtet Rieux, habe ihn bewogen, die Geschehnisse zu schildern. „Ganz allgemein hat er sich bemüht“, schreibt Camus vom Chronisten, „nicht mehr zu berichten, als er sehen konnte, seinen Gefährten in der Pest keine Gedanken zuzuschreiben, die sie eigentlich nicht unbedingt haben mussten.“ Und weiter: „Aber gleichzeitig hat er, dem Gebot eines anständigen Herzens gehorchend, entschlossen die Partei des Opfers ergriffen und mit den Menschen, seinen Mitbürgern, die einzigen Gewissheiten teilen wollen, die ihnen gemeinsam sind, nämlich die Liebe, das Leid und das Exil“. Der Roman endet mit den Sätzen: „Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die von der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Freude immer bedroht war. Denn er wusste, was dieser Menge im Freudentaumel unbekannt war und was man in Büchern lesen kann, dass nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, dass er jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann, dass er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.“
Albert Camus kam 1960 bei einem Unfall im Auto seines Verlegers Michel Gallimard ums Leben. Er hat nicht nur „L’Etranger“ und „La Peste“ geschrieben, sondern auch Theaterstücke und philosophische Essays wie „Le Mythe de Sisyphe“ und „L’Homme révolté“. Diese philosophischen Schriften haben zur Zeit ihres Erscheinens bei den französischen Vordenkern des Existentialismus, bei Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty, heftige Kontroversen ausgelöst, die viele Seiten füllen und die kaum mehr jemand liest. Die „Pest“ aber ist aktuell geblieben. Denn das Buch wirft eine Frage auf, die sich nach der ungeheuerlichen Menschheitskatastrophe des Zweiten Weltkriegs Millionen von Menschen stellten und die sich uns angesichts späterer Katastrophen immer wieder stellt: die Frage nach dem schweigenden Gott. Es ist dies ein altes Problem, das seit der Aufklärung, welche sich von den Voreingenommenheiten des Christenglaubens zu lösen versuchte, immer wieder abgehandelt worden ist. Als im Jahre 1755 ein schreckliches Erdbeben, ein Naturereignis wie die Pest, die prachtvolle Hafenstadt Lissabon in kürzester Zeit vernichtete, verfasste Voltaire ein Gedicht, das mit dem Vers beginnt: „O malheureux mortels! O terre déplorable.“ Darin kämpfte der Dichter mit bewegten Worten gegen die Irrlehren des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz und des Dichters Alexander Pope an, die behauptet hatten, wir Menschen lebten in der „besten aller möglichen Welten“ und in Gottes Schöpfung sei alles zum Besten bestellt. Voltaire leugnete die Existenz eines Gottes nicht; aber er kam zum Schluss, dass Gott eine Art Uhrmacher war, der sich zurückgezogen hatte, während seine Weltenuhr, allen Launen und Zufällen des Schicksals ausgesetzt, abschnurrte.
Wie aktuell Camus geblieben ist, zeigt das kürzlich erschienene Buch von Philipp Roth mit dem Titel „Nemesis“. Ein schönes Buch, leider schlecht und in offensichtlicher Eile übersetzt. Die Ausgangslage von Roth’s Roman ist dieselbe wie bei Camus – nur ist es nicht die Pest, die ausgebrochen ist, sondern die Kinderlähmung. Und es sind nicht die erwachsenen Bürger einer nordafrikanischen Stadt, sondern junge, lebensfrohe Amerikaner, welche die schlimme Erfahrung des schweigenden Gottes machen müssen. Über Ulrich Greiners lobender Rezension des Buches in der „Zeit“ stand der irreführende Titel: „Der böse Gott“. Das wäre eine neue Variante: der Gott, den es zwar gibt, der aber mit boshafter Genugtuung auf das herabsieht, was er angerichtet hat.