Die Dokumente zeigen, dass die palästinensischen Unterhändler der PLO, zuerst Ahmed Qureia, später Saeb Erekat, sehr viel grössere Konzessionen vorgeschlagen haben, als sie dies in der Öffentlichkeit zugaben. Öffentlich erklärten sie und ihre politischen Auftraggeber immer wieder, sie bestünden auf der Rückgabe der gesamten Westjordanterritorien und ganz Ost-Jerusalems. Sie bestanden auf den vollen Rechten der als "Flüchtlinge" bezeichneten vertriebenen Palästinenser von 1948/9 sowie 1967. Sie verlangten einen unabhängigen palästinensischen Staat und dergleichen mehr.
In den Verhandlungen jedoch gingen sie zunehmend grössere Konzessionen an die israelische Seite ein, bis sie praktisch in allen strittigen Fragen weitgehend auf ihre ursprünglichen Forderungen verzichteten. Die Konzessionen genügten jedoch nie, um israelischen Unterhändler zum Abschluss eines Vertrages über eine endgültige Friedenslösung zu veranlassen.
Verzweifelte Suche nach Frieden
Die Dokumente beleuchten auch die Haltung der amerikanischen "Vermittler", welche stets zu Gunsten der Israeli wirkten und von den Palästinensern immer nur forderten, sie müssten eben noch mehr Konzessionen machen. Den meisten Beobachtern, die den sogenannten Friedensprozess verfolgt haben, ist dies alles nicht neu. Andere liessen sich von den israelischen Propagandabehauptungen beindrucken, nach denen "die Palästinenser keinen Frieden wollten", "wir aber immer neue Friedensangebote machen".
Die Dokumente belegen nun im Detail, worüber wirklich geredet wurde. Immer wieder staunt man über die weitgehenden Konzessionen, die die palästinensische Seite in den Verhandlungen vorschlug, um eine endgültige Lösung zu erreichen. Das Gesamtbild macht deutlich, dass die palästinensische Seite verzweifelt nach einem Frieden suchte. Sie wusste natürlich, dass nur der politische Erfolg eines Friedensabschlusses sie von dem Vorwurf ihrer Rivalen von Hamas freisprechen könnte, welche behaupteten, die Verhandlungen würden zu nichts führen ausser zu weiteren Fortschritten Israels in der unrechtmässigen Inbesitznahme palästinensischen Territoriums. Leider sollte Hamas dabei recht behalten.
Eine Antwort auf Liebermanns Offensive?
Der Umstand, dass der israelische Aussenminister seinerseits eine politische Initiative in Bezug auf die sogenannten Friedensverhandlungen vorbereitet und sie in der kommenden Woche zu lancieren gedachte, mag eine zufällige Koinzidenz sein. Es könnte sich aber auch um das Gegenteil handeln. Es könnte der wahre Anlass dafür sein, dass die Dokumente gerade jetzt veröffentlicht wurden. Liebermann will, wie in der israelischen Zeitung Haaretz auf Grund von offziösen Meldungen beschrieben wurde, den Amerikanern eine Landkarte vorlegen, auf welcher er die Gebiete markiert, die er bereit wäre, den Palästinensern "vorläufig" für ihre politische Entität zu überlassen.
Dazu schlägt er Verbindungsstrassen vor, um die palästinensischen Bantustans untereinander zu verbinden und "territoriale Kontinuität" zwischen ihnen zu schaffen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei wohl um die heutigen Zonen A und B, die der PLO Autorität unterstehen. Das sind etwa 42 Prozent der Besetzten Gebiete. Auf diese Weise möchte Liebermann den Status quo "provisorisch" festschreiben. All dies wäre für die Amerikaner gut, nicht aber für die Palästinenser. Diese will Liebermann offenbar einfach vor vollendete Tatsachen stellen.
Die Karte soll, nach der Darstellung von Haaretz, von einer Liste begleitet sein, die all die Konzessionen enthält, welche die Israeli den Palästinensern vorgeschlagen, diese aber abgelehnt haben sollen. Was natürlich die israelische Propaganda noch einmal stützt, nach welcher die Palästinenser in Wirklichkeit "keinen Frieden begehrten", während die Israeli ihn dauernd anböten.
Sogar wenn es sich um ein zufälliges Aufeinandertreffen der beiden Initiativen handeln sollte, bleibt doch der Umstand bestehen, dass die palästinensischen Dokumente der geplanten Propagandaoffensive des israelischen Aussenministers ein ziemlich klares Dementi entgegenstellen.
Ein Schlag gegen Abbas
Die "Leaks" schädigen jedoch auch die PLO Führung. Die Palästinenser sind empört über die Bereitschaft ihrer offiziellen Führung, den Israeli "alles" zu geben, während ihnen von der gleichen Führung beständig vorgesagt wurde, sie bestehe auf der vollen Rückgabe der Besetzten Gebiete und auf voller Staatlichkeit. Die Bevölkerung fühlt sich hintergangen von ihrer Führung, der sie ohnehin schon "Zaghaftigkeit" und "Rückgratlosigkeit" gegenüber Israel und den Amerikanern vorwarf. Nun sieht sie sie als "Verräter" an der Sache der Palästinenser und als heimliche Partner der Israeli. Die Empörung kann man leicht an den E-mail-Reaktionen ablesen, die den Nachrichten über die Enthüllungen folgten. Hamas schlägt natürlich in die gleiche Kerbe und erklärt, da sehe man die verräterische Tätigkeit der PLO-Führung,die in Wirklichkeit mit den Israeli zusammenarbeite.
All dies kann nur Hamas, dem Rivalen der PLO, nützen. Daher kam die Vermutung von manchen Analysten der ersten Stunde, vielleicht stehe Hamas hinter den Enthüllungen. Doch anderseits ist nicht ersichtlich, woher Hamas die Dokumente erhalten haben sollte. Es sei denn, sie hätte einen eigenen Spion unter den palästinensischen Unterhändlern besessen.
Das Ende der bisherigen Verhandlungstaktik
Wenn das "Leak" aber von den Unterhändlern selbst stammt, dann von untergeordneten Chargen. Das sind Leute die nicht hoch genug in der offiziellen Hierarchie der PLO stehen, um den Zorn der Bevölkerung gegen sich fürchten zu müssen. Vielleicht waren sie auch der Ansicht, der Friedensprozess sei vorbei und es sei für Abbas und seine Helfer nun an der Zeit, abzutreten, um den Weg für eine neue Generation von Palästinensern zu öffnen. Diese sollte in der Lage sein, mit Hamas zu verhandeln und womöglich gemeinsam mit Hamas eine neue Politik gegenüber Israel auszuhandeln und durchzusetzen.
Dieser politische Neubeginn müsste wohl auf der Linie der zivilen Konfrontation gegen Israel liegen. Dazu gehört der zivile Ungehorsam zur Durchsetzung der Menschenrechte der Palästinenser. Vielleicht würde dieser durch wachsende Hilfe der Sympathisanten aus dem Ausland - Südamerika schon heute, vielleicht später Europa und am Ende möglicherweise sogar Nordamerika - gestützt.
Die vermuteten Initianten einer derartigen Initiative erwarten vielleicht, dass Hamas den militärischen Widerstand als ein Ding der Unmöglichkeit erkennt. Auf der anderen Seite waren die Verhandlungen stets das Steckenpferd von Abbas. Ganz offensichtlich sind sie endgältig fehlgeschlagen. Die neue Linie der Intianten wäre: weder Gewalt noch Friedensverhandlungen unter amerikanisch-israelischer Prävalenz, sondern gewaltloser ziviler Widerstand zur Durchsetzung der Menschenrechte der Palästinenser.
Palästinapolitik nach dem Friedensprozess
Dies sind vorläufig Spekulationen. Sie sollen nur deutlich machen, um welche Möglichkeiten gegenwärtig in jenen palästinensischen Kreisen gerungen wird, die überhaupt noch politische Hoffnungen hegen. Den Palästinensern ist heute bewusst, dass der Friedensprozess, so wie ihn die Israeli in Zusammenspiel mit den Amerikanern seit 1993 handhaben, nur der israelischen Landnahme dient, nicht dem Frieden. Aus dieser Erkenntnis wollen sie die Konsequenzen ziehen.
Die "Leaks" werden diese Erkenntnis erhärten und den Vorgang einer Neuorientierung beschleunigen. Dabei spielt es keine Rolle, wer die Dokumente al-Jazeera zur Verfügung stellte. Abbas und die Seinen sind ein Hindernis für eine jede Neuorientierung. Die "Leaks" werden ihr politisches Ableben beschleunigen. Nach Abbas kann vielleicht der Versuch einer Versöhnung mit Hamas unternommen werden.
Diese Versöhnung ist für jede weitere palästinensische Politik unentbehrlich. Sie müsste auf der Basis erfolgen, dass militärischer Widerstand aussichtslos ist, wie dies Hamas in Gaza offensichtlich bereits hat erkennen müssen. Die Friedensverhandlungen dienen nur Israel. Der zivile, gewaltlose Widerstand mit der Hoffnung auf ein weltweites positives Echo - wenn er nur lange und konsequent genug durchgeführt werden kann - muss die gemeinsame Politik aller Palästinenser werden.