Dazu müssten echte Wahlen durchgeführt werden mit Chancengleichheit für alle Kandidaten, und die so Gewählten müssten auch über die Macht verfügen, Gesetze zu erlassen, die für das ganze Land ausnahmslos gültig wären. Es gibt noch andere Voraussetzungen dafür, dass eine Demokratie funktionieren kann, etwa die Unabhängigkeit der Richter und der Gerichte, sowie ein Minimum an Informationsfreiheit. Wenn diese Voraussetzungen fehlen, sind Wahlen eine blosse Alibi-Übung, die dazu dient, Gewaltherrschern ein demokratisches Mäntelchen überzuziehen.
Dies ist bei den meisten Wahlen im Nahen Osten der Fall. Die dortigen Gewaltherrscher pflegen Wahlen zu organisieren, um in den Augen des Auslands, besonders Amerikas, als Demokratien zu erscheinen und - wenn es irgendwie machbar ist - sich auch in den Augen der eigenen Bevölkerung als Demokratie oder mindestens als "auf dem Weg zur Demokratie befindlich" darzustellen.
Die jüngsten Wahlen in Ägypten sind ein Beispiel für eine solche Alibi-Übung. Gewählt wird ein Parlament, von dem von vorneherein feststeht, dass die Partei des Präsidenten Mubarak die überwältigende Mehrheit der Sitze einnehmen
wird.
Es wird auch ein Parlament sein, dass tut und lässt, was Mubarak will. Dennoch ist ein lebhafter Wahlkampf zustande gekommen. Gewählt werden aus einer Masse von 5 725 Kandidaten 508 Abgeordnete (Mubarak wird weitere 10 ernennen). Die Staatspartei (NDU) hat 800 Kandidaten aufgestellt, die bürgerlich demokratische Opposition, "Wafd", 250, die Muslimbrüder bewerben sich in 135 der 508 Wahlkreise, und die weitaus grösste Zahl der Kandidaten ziehen als Unabhängige in den Wahlkampf. Offiziell müssen sich auch die Muslimbrüder "Unabhängige" nennen, weil ihre Gruppierung nicht als Partei anerkannt wird und daher als Gruppierung nicht gewählt werden kann.
Die Ägypter kennen jedoch die Zugehörigkeit der 135. Der Wahlkampf ist sehr lebhaft. Manche Kandidaten geben viel Geld für Werbung aus. Abgeordneter zu sein, bringt Vorteile nicht politischer sondern sozialer und finanzieller Natur. Als Parlamentarier sitzt man nah an der Macht mit Zugang zu den staatlichen Futterkrippen. Man kann auch als Parlamentarier zu Gunsten einer eigenen Klientelgruppe wirken, die dann natürlich ihrerseits ihrem Klientelchef Gefolgschaft schuldet.
Im Vorfeld der wahren Machtfrage
Die gegenwärtigen Wahlen sind besonders heiss umkämpft, weil Präsident Mubarak, der mächtigste Mann im Lande, 83 Jahre alt ist und im kommenden Jahr entweder für weitere sechs Jahre neu gewählt werden muss, oder - was die wenigsten erwarten - zurücktreten würde. Die Nachfolge ist ungeregelt, doch der Nachfolger wird der Verfassung nach praktisch alle Macht monopolisieren. Der Staat zeigt sich eisern gewillt, für die irgendwann doch bevorstehende Übergangszeit alle Hebel der Macht zu kontrollieren.
In dem vorausgegangenen Parlament waren die als Partei nicht anerkannten Muslimbrüder die grösste Gruppe der Opposition. Sie hatten 88 Sitze, beinahe ein Viertel des damals kleineren Parlamentes errungen.
Niemand weiss, ob das damals geschah, weil der Staat es so wollte, oder ob dem Staate damals die Kontrolle ein wenig entglitten war. Doch es ist diesmal sehr deutlich geworden, dass der Staat darauf ausgeht, die Zahl der gewählten Muslimbrüdern zu reduzieren. Über 1000 ihrer Kandidaten und Aktivisten wurden im Vorfeld der Wahlen eingekerkert. Die Brüder selbst zählen 1300.
Gegen Wahlversammlungen, bei denen der Slogan "der Islam ist die Lösung" laut wird, geht die Polizei mit Gewalt vor. Der Slogan dient als ein Art Kennzeichen der verbotenen "Assoziation". Natürlich haben die Brüder keine eigene Zeitung. Doch auch jene Blätter und private Fernsehstationen, die ihnen Sympathien oder Verständnis zeigen, wurden im Vorfeld der Wahlen geschlossen.
Die Brüder wurden auch daran gehindert, übers Internet Propaganda zu machen. Internationale Wahlbeobachter wurden verboten, und die Kompetenzen der ägyptischen Richter, die in den früheren Wahlen zur Beaufsichtigung des Urnengangs zugezogen wurden, wurden zurückgeschraubt. Einige Gerichte haben angeordnet, die Wahlen in gewissen Bezirken zu verschieben, in denen nicht genehme Kandidaten von den Kandidatenlisten einfach gestrichen wurden. Doch die Beobachter erwarten, dass die Regierung sich über solche Entscheide hinwegsetzen wird. Nach den Wahlen vom Sonntag werden nächste Woche Stichwahlen in den Bezirken erfolgen, in denen kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichte.
Was ist die Rolle des Wafd?
Die Wafd-Partei ist die grosse alte Partei, die in der Zwischenkriegszeit für die Unabhängigkeit Ägyptens gegen die Kolonialmacht kämpfte. Sie wurde später von Nasser verboten, noch später wieder zugelassen. Doch hat sie nie mehr ihre alte Bedeutung erlangt. Sie hat für diese Wahlen mehr Kandidaten als die Muslimbrüder ins Feld geführt (250 gegen 135).
Warum dies geschah ist nicht bekannt, doch gibt es Gerüchte, es bestünden Abmachungen mit der Staatspartei NDU, die darauf abzielten, mehr Leute des Wafd als solche der Muslimbrüder ins Parlament zu bringen. Damit diese nicht mehr die Hauptoppositionsmacht abgäben. Die Wahlbeteiligung der Ägypter liegt traditionsgemäss bei 25 %. Diese niedrige Zahl lässt sich dadurch erklären, dass eigentlich nur die staatliche Macht, die Kandidaten selbst und jene Leute, die sich als als ihre Klienten sehen, ein Interesse daran haben, wer gewählt wird.
Boykottaufrufe
Die Muslimbrüder und die Wafd Partei hatten im Vorfeld der Wahlen scharfe Auseinandersetzungen darüber, ob sie die Abstimmung boykottieren oder an ihr teilnehmen sollten. Mohamed El-Baradei, der Chef der Internationalen Atombehörde, gilt als ein möglicher Gegenkandidat gegen Mubarak, in den auf das kommende Jahr bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Jedoch nur, wie er stets betont, wenn zuvor die Verfassung soweit revidiert würde, dass eine echte Wahl stattfinden könnte. El-Baradei hat zu einem Boykott der gegenwärtigen Wahlen aufgerufen. Einige der kleinen Parteien und Gruppen sind ihm gefolgt. Doch die Brüder beschlossen nach einem inneren Ringen, teilzunehmen, wobei wohl ein Grund war, dass sie ihre Wähler in den früheren Wahlen nicht im Stich lassen wollten. Für El-Baradei jedoch war es ein Rückschlag, dass die Brüder, die wichtigste Oppositionskraft im Lande, seinem Aufruf nicht folgen wollten.