„La Rossa“, wie sie in Italien genannt wird, machte auch im deutschsprachigen Raum Karriere. Sie verkaufte über 80 Millionen Tonträger. Keine italienische Künstlerin veröffentlichte so viele Alben wie sie: 173. Die italienische Zeitung „La Repubblica“ bezeichnet sie als „eine der grössten Interpretinnen von italienischen Liedern“. Der „Corrriere della sera“ nennt sie „die rebellische, kapriziöse Rote“.
Den Namen „La Rossa“ erhielt sie wegen ihrer roten Haare. Oft wurde sie auch „Pantera di Goro“ genannt. Goro, ein Städtchen in der Romagna bei Ferrara ist ihr Geburtsort. Sie, der Panther von Goro, ist die Tochter einer Schneiderin und eines Fischhändlers.
In ihrer Karriere, die über ein halbes Jahrhundert dauerte, gelang es ihr stets, sich zu verändern, sich neuen Strömungen anzupassen, sich zu verwandeln – und in mehreren Sprachen zu singen. Sie sang Lieder der Resistance („Bella Ciao“ etc.), der „Dreigroschenoper“, italienische Folklore, französische Chansons, Liebeslieder und vieles mehr. Zu den grössten Erfolgen der überzeugten Sozialistin gehört „Freiheit in meiner Sprache“.
„Naiv, dünn und lang“
Alles beginnt 1959. Milva beteiligt sich an einem Talent-Contest des italienischen Fernsehens Rai. Sie setzt sich gegenüber 7600 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch und gewinnt. Jetzt nimmt sie Gesangsunterricht.
1961, als 22-Jährige, „naiv, dünn und lang“, wie sie später sagte, tritt sie erstmals am Sanremo-Festival auf und erobert mit „Il mare nel cassetto“ den dritten Platz. Die Kritik ist beeindruckt von ihrer aussergewöhnlichen Stimmkraft.
Ein Jahr später, erneut in Sanremo, erlebt sie mit „Tango Italiano“ einen durchschlagenden Erfolg.
Dreissig Jahre mit Giorgio Strehler
Im selben Jahr gibt sie ihr Kinodebüt („La bellezza d'Ippolita“ an der Seite von Gina Lollobrigida). Ihre Heirat mit Maurizio Corgnati, einem viel älteren Fernsehregisseur, dauerte nicht lange. („Ich fühlte mich wie sein kleines Mädchen.“)
1965 singt sie im Piccolo Teatro von Mailand anlässlich der Feier zum 20. Jahrestag der Befreiung Italiens vom Faschismus die „Canti della libertà“. 1972 inszeniert Georgio Strehler die „Dreigroschenoper“ mit Milva in der Rolle der Seeräuberjenny und Domenico Modugno als Mackie Messer. Dreissig Jahre lang arbeitet sie mit Giorgio Strehler zusammen. Er macht sie zu einer der wichtigen Interpretinnen von Brecht-Songs. 1976 erhält sie den Preis der deutschen Schallplattenkritik für „Milva canta Brecht“ unter der Leitung von Giorgio Strehler.
Zu ihren grössten Erfolgen gehört „Von Tag zu Tag“ mit Liedern von Mikis Theodorakis – Hymnen der neuen selbstbewussten Frauengeneration. 1980 erscheint „La Rossa“.
15 mal in Sanremo
Sie tritt im Olympia in Paris auf, im Théatre de l’Odéon, an den Berliner Festwochen, an der Deutschen Oper in Berlin, am Alameida-Theater in London, in Moskau, im Zürcher Kongresshaus, in Los Angeles und Südamerika. In der Arena von Verona singt sie mit José Carreras eine Hommage an Maria Callas. Die Sendung wird weltweit ausgestrahlt. 1988 ist sie Mitglied der Jury des Filmfestivals von Locarno.
1989 nimmt sie mit Mario Adorf, René Kollo und Ute Lemper die Urfassung der „Dreigroschenoper“ auf. Die Kritik ist begeistert. Später arbeitet sie auch mit Mikis Theodorakis und Ennio Morricone, Astor Piazzolla, Vangelis, Luciano Berio und Franco Battiato, einem der bekanntesten Cantautori, zusammen.
15 Mal nimmt sie am Sanremo-Festival teil. Sie singt auf Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch, Griechisch, Portugiesisch und Japanisch. 2008 tritt sie in Dresden mit Montserrat Caballé auf.
Milva als Claire Zachanassian
Auch in zahlreichen Filmen spielt sie mit, so 1987 in „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders und 1995 in „Gesualdo, Tod für fünf Stimmen“ von Werner Herzog. Peter Brooks arbeitet fünf Jahre mit ihr zusammen.
2009, zu ihrem 70. Geburtstag tritt sie an den Theaterfestspielen im österreichischen Reichenburg in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ als Claire Zachanassian auf: ein voller Erfolg. Den deutschen Text hatte sie fast perfekt einstudiert.
1990 erhält sie die „Goldene Stimmgabel“, 2006 das „Bundesverdienstkreuz 1. Klasse“. 2009 wird sie „Ritter der Ehrenlegion“. 2018 erhält sie am Sanremo-Festival den „Lifetime Achievement Award“.
„Tiefe Emotionen geweckt“
2010 kehrt sie, vor allem auch aus gesundheitlichen Gründen, den Bühnen den Rücken. Dazu schreibt sie einen emotionalen Brief. „Nach zweiundfünfzig Jahren ununterbrochener Tätigkeit, Tausenden von Konzerten und Theateraufführungen auf den Bühnen von gut der Hälfte des Planeten, nach hundert Alben, die in mindestens sieben verschiedenen Sprachen aufgenommen wurden, habe ich beschlossen, meiner Karriere ein Ende zu setzen (...), die ich für grossartig und einzigartig halte, nicht nur als Sängerin, sondern auch als Schauspielerin und Musik- und Theaterdarstellerin (...). Ich habe mich entschieden, die Bühne für immer zu verlassen und einen Schritt zurückzutreten.“
Immer mehr verliert sie ihr Gedächtnis. Die letzten Jahre verbringt sie in ihrem Haus in der Via Serbelloni, mitten im Zentrum von Mailand. Betreut wird sie von ihrer Sekretärin Edith Meier und ihrer Tochter, der Kunstkritikerin Martina Corgnati. Staatspräsident Sergio Mattarella würdigt die Verstorbene als „vielseitig, kultiviert und sensibel“. Der italienische Kulturminister Dario Franceschini sagt: „Sie war eine der intensivsten Interpretinnen des italienischen Liedes. Ihre Stimme hat in ganzen Generationen tiefe Emotionen geweckt.“