Es harzt mit der EU, nicht nur, was die Personenfreizügigkeit betrifft. Seit die EU im Februar 2017 den Grundsatzbericht zu den Beziehungen zur Schweiz verabschiedet hat, klemmt es irgendwie. Hiess es noch im Frühling, die Chancen für eine Entkrampfung der schweizerischen Beziehungen zur EU stünden gut, treten die Verhandlungen seither an Ort. Derweil sinkt die Begeisterung für diesen Handel in der Schweiz von Woche zu Woche.
Stolperstein Masseneinwanderungsinitiative
Seit das Schweizer Volk die Masseneinwanderungsinitiative angenommen hat, sind die Verhandlungs-Dossiers von der EU aufs Eis gelegt. Erst wenn die institutionellen Fragen geregelt sind, wird es laut EU weitergehen. In erster Linie sind Dossiers betroffen, die der Schweiz neuen EU-Marktzutritt geben würden, also z. B. das Stromabkommen (darüber wird seit 10 Jahren „verhandelt“) oder das Abkommen über den Emissionshandel (CO2-Emissionsrechte). Einzig bei der wichtigen Frage der technischen Handelshemmnisse gibt es erfreuliche Nachrichten: Die Schweiz und die EU haben das MRA-Abkommen Ende Juli 2017 aktualisiert. Weitere hängige Dossiers sind Erasmus+ (Studentenaustausch), Landwirtschaft, Kulturförderung (Media), Gesundheit, und Lebensmittel- und Produktesicherheit.
Personenfreizügigkeit (Bilaterale I)
Das Freizügigkeitsabkommen (FZA) wurde am 21. Juni 1999 zwischen der Europäischen Union (EU) und der Schweiz unterzeichnet und trat 2002 in Kraft. Durch das FZA und dessen Protokolle werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen für EU-Bürgerinnen und -Bürger in der Schweiz vereinfacht. Ergänzt wird das Freizügigkeitsrecht durch die gegenseitige Anerkennung von Berufsdiplomen, durch das Recht auf den Erwerb von Immobilien und die Koordination der Sozialversicherungssysteme. Die gleichen Regelungen gelten für Staatsangehörige der EFTA-Länder. Von diesem Abkommen profitieren international orientierte Schweizerinnen und Schweizer.
Die neuesten Zahlen des Staatssekretariats für Migration zeigen, dass der EU-Wanderungssaldo (Einwanderung minus Auswanderung) laufend sinkt, er war im ersten Halbjahr 2017 so tief wie seit 10 Jahren nicht mehr. In Zahlen: 15’000 statt 40’000. Mit anderen Worten: Für viele EU-Bürger hat die Schweiz an Anziehungskraft eingebüsst, wohl auch als Folge des „Franken-Schocks“.
Immerhin sind im Zeitraum der 15 Jahre rund 600’000 EU-Bürger in die Schweiz gezogen, was die insgesamt günstige Wirtschaftslage unseres Landes förderte. Der Mangel an Fachkräften konnte gemindert werden. Dass auch gewisse Nachteile daraus entstanden sind, soll nicht verschwiegen werden (Erwerbslosigkeit, in einzelnen Berufssegmenten erhöhter Konkurrenzdruck, Immobilienblase, Wohnungsnot etc.). Ganz allgemein und für alle sichtbar hat das starke Bevölkerungswachstum zur übermässigen Auslastung der Infrastruktur im Land geführt.
AUNS-Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit
Bekanntlich wollen SVP und AUNS eine Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit lancieren. Ein Volksentscheid in dieser Sache könnte es zwar ermöglichen, die Widersprüche der Masseneinwanderungsinitiative aufzulösen. Doch um welchen Preis? Da über dieses Vorhaben seit Langem gemunkelt wird, ohne dass sich die Initianten bisher festlegten wollten, kann auch so ausgelegt werden, dass damit auf kleinem Feuer ein SVP-Thema weiter gekocht wird.
Eines ist jedoch klar: Wenn Lukas Reimann, Chef der AUNS, suggeriert, nur auf diese Weise bringe man die EU an den Verhandlungstisch, könnte diese persönliche Einsicht bös in die Binsen gehen. An den Verhandlungstisch bringen heisst noch lange nicht, dass sich die EU-Funktionäre dann anders als heute verhielten. Im Gegenteil. Und: eine Kündigung der Freizügigkeit hätte automatisch zur Folge, dass alle Pakete der Bilateralen I hinfällig würden. Wollen wir das?
BIP-Wachstum
Seit längerer Zeit weisen warnende Stimmen darauf hin, dass das Wachstum der Schweiz gemessen am Bruttoinlandprodukt (BIP) eigentlich nur die halbe Wahrheit widerspiegelt. Ob unser Land tatsächlich so stark von der Personenfreizügigkeit profitiert hat, wie die prognostizierten rund 1,5 Prozent Wachstum für 2017 es suggerieren, ist fraglich. Denn erst das durchschnittliche BIP pro Kopf gibt dazu eine ehrliche Antwort. Doch hier ergibt sich eben kein Wachstum, ergo hat die Personenfreizügigkeit längst nicht alle Erwartungen erfüllen können. Tatsächlich ist die Produktivität – die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft – ernüchternd tief ausgefallen, wie die Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich feststellt.
Rahmenabkommen mit der EU
Zurück zu den laufenden Rahmenabkommen-Verhandlungen. Heute stellt sich die Frage, ob dieses Abkommen, dessen Abschluss im März 2017 vom inzwischen ausgeschiedenen Chefunterhändler Jacques de Watteville vorgespurt und von Aussenminister Didier Burkhalter forsch vorangetrieben wurde, noch mit jenem optimistischen Blick gesehen werden darf. Nachdem Brüssel damals zu zwei Zugeständnissen eingewilligt hatte, schien der Moment günstig. Doch inzwischen haben viele Schweizerinnen und Schweizer offensichtlich das ursprüngliche Interesse daran verloren. Staatssekretärin Pascale Baeriswyl, die Nachfolgerin von de Watteville mit Titel Chefkoordinatorin, machte damals gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit eines klar: Nur wenn es in unserem Interesse liegt, werden wir überhaupt ein Abkommen abschliessen.
Zur Erinnerung: Seit über drei Jahren laufen nun die Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen zwischen der Schweiz und der EU. Seither trägt die EU ihre vier Hauptpunkte wie ein Mantra vor: Erstens: Anwendung der Abkommen, zweitens: homogene Auslegung des EU-Rechtes, drittens: stetige Übernahme neuen EU-Rechtes, viertens: ein verbindliches Verfahren für allfällige Streitbeilegung.
Schon damals kritisierten einzelne Schweizer Politiker den Vorschlag als Ausdruck der Schulmeisterei seitens der EU. Ruedi Noser etwa liess in der NZZ verlauten, „es wäre an der Zeit, dass die EU aufhören sollte, die Schweiz zu schulmeistern“. Angesichts der Unfähigkeit der EU, ihre grossen Probleme intern zu meistern (Migration, Sicherheit), gehört jedenfalls die Schweiz nicht zur Gruppe jener Länder, die offensichtlich unlösbare Probleme auftürmen (Ungarn, Polen etc.), sondern wäre ein Land, das zu Lösungen beitragen könnte. Warum? Wir halten unsere Verträge ein, wir investieren in die Zukunft der EU (neuer Gotthardtunnel), wir kooperieren mit den EU-Steuerbehörden, wir bezahlen getreulich Kohäsionszahlungen oder geben 300’000 Grenzgängern einen Job. Man könnte meinen, wir wären in den heutigen turbulenten Zeiten ein Idealpartner für die EU, auch ohne Mitgliedschaft.
Im Schatten des Brexit
Täglich hören wir die stereotypen, nichtssagenden Worthülsen der Verhandlungspartner, die sich mit den Folgen des Brexit zu befassen haben. „Wir wollen Resultate, wir machen Fortschritte, wir sind uns einig bei der Themenauswahl, vorerst getrennt nach gleicher oder nicht gleicher Meinung.“ Mit anderen Worten: es ist völlig unklar, wie es weitergehen soll.
Dass der Brexit die Prioritätenliste der Brüsseler Funktionäre stark verändert hat und die Schweiz damit an den Rand des Verhandlungstisches geschubst wurde, ist uns klar. Dass im Übrigen die EU seit zehn Jahren darauf beharrt, dass die Schweiz alle Spielregeln und Institutionen des Binnenmarktes im Grundsatz akzeptiert, – angesichts der tatsächlichen internen Zustände mit der Weigerung einzelner Oststaaten-EU-Mitglieder, diese selbst einzuhalten – ja, schlimmer noch, damit droht, die Aktualisierung der pendenten Verträge mit der Schweiz zu blockieren, ist unerfreulich. Solche Sticheleien sind unangebracht.
Bis hierher und nicht weiter
Die politischen Parteien im Land und der Bundesrat sind in der Beurteilung der Situation offensichtlich nicht ganz gleicher Meinung. Über die Ziele einig zu sein (wie dies Bundespräsidentin Doris Leuthard und EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker im Frühling 2017 signalisierten), ist das eine. Das andere: dass Bundespolitiker, angesichts immer anstehender Wahlen, dies unterschiedlich sehen, ist deren Interpretationsrecht. Allerdings fällt auf, dass die Begründungen („im Namen des Volkes“) sehr weit auseinanderlaufen.
Es ist längst Tatsache, dass die SVP dieses Abkommen bereits im Vorfeld als Knebelvertrag ablehnt. Weniger weit gehen FDP und CVP – für sie ist allerdings klar, dass das Volk bei der Übernahme von EU-Recht das letzte Wort hätte und dass die Übernahme europäischer Richtlinien zur Unionsbürgerschaft, die nicht in den aktuellen bilateralen Abkommen enthalten sind, nicht akzeptabel wäre.
Abwarten und Tee trinken?
Die schweizerische Wirtschaft – der Motor unseres Wohlstands – ist verhalten positiv gegenüber den Ergänzungen des Rahmenabkommens. Sie wollen die Bilateralen I nicht gefährden. Die Politiker werden langsam ungeduldig. Und das Volk? Die etwas weltfremde Idee, wir könnten in einem bilateralen Verhältnis den Preis unilateral bestimmen, hat hier wenig Support. Das Volk ist – wie schon oft bewiesen – realistisch und pragmatisch.
Auf jeden Fall dürfte eine Mehrheit „chi va piano, va sano“ als Strategie bevorzugen. Angesichts der bedrückenden Unsicherheit innerhalb der EU (Brexit etc.) und deren Zukunft ist es für einmal wohl gar nicht falsch, mit Gelassenheit „abzuwarten und inzwischen Tee zu trinken“.