Jessye Norman, die in Augusta (Georgia) geborene amerikanische Sängerin, starb am 30. September dieses Jahres im Alter von 74 Jahren. Das Sonderbare bei dieser Sängerin war ihre geradezu die Perfektion erreichende sowohl sprachliche wie musikalische Gestaltungskraft. Ob sie englische Spirituals, italienische Arien, französische Kunstlieder oder Wagner’sche Musikdramen interpretierte: die sprachlich-stimmliche Sorgfalt in der Ausgestaltung der allerkleinsten Details war das sie sogleich verratende Markenzeichen.
Eine Artikulationsästhetin
Der Stimmenexperte Jens Malte Fischer hat Jessye Normans Stimme einmal als «quasi ozeanisch» bezeichnet. Dies ist deshalb interessant, weil Ozeane in ihrer Wahrnehmungsqualität sowohl unter stürmischsten Bedingungen wie unter jenen kaum atmender Stille geheimnisgeladen sind. Die Stimme der Jessye Norman war alles andere als fanfarenartig und ihre hohen Töne hatten nichts von stählerner Kälte und eisigem Glanz. Sie war im Forte so füllig und wärmend, wie sie im Leisen samtig und geradezu nur wie ein Hauch berührend sein konnte. So, als würde sie so etwas wie musikalisch geforderte «Wortvorbehalte» und eine «Wortannäherungslist» kennen und beherzigen.
Wie sie Melodiebögen zu gestalten pflegte, wie sie durch kaum merkbare Kunsttricks der kleinen Verzögerung oder der tonalen «Verschattung» einsetzte: das kann man heute in ihren Aufnahmen aus den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts am besten nachhören (sie sollte ja nicht gerade nur als die Hofsängerin der Marseillaise für die französische Nation in Erinnerung bleiben): Ihre Grösse lag in zahlreichen Operngestalten, aber nicht weniger in den Orchesterliedern von Mahler und Richard Strauss. Ebenso überzeugend war sie in am Klavier begleiteten Schubert- oder Brahms-Liedern, oder in Arien und Szenen von Berlioz, Ravel oder beispielsweise in Chaussons «Poème de l’amour et de la mer». Unter Sängerinnen und Sängern gibt es immer wieder – wenn auch zu selten – Genies der sprachlichen Artikulation. Jessye Norman leuchtet unter diesen hervor wie der hellste Stern am Nachthimmel.
Die Wesendonck-Lieder
Zum Lieblingsrepertoire einer perfekten Mezzosopranstimme mit strahlenden Kapazitäten auch im Höhenbereich gehören ebenfalls die sogenannten «Wesendonck-Lieder», die Richard Wagner in seinen Zürcher Jahren für Mathilde von Wesendonck, die Frau eines reichen deutschen Seidenhändlers, komponierte. Die Texte stammen von Wagners «Zürcher Muse» selbst, Wagner setzte sie zunächst für Frauenstimme und Klavier. Es war die Zeit, als die Begegnung mit Mathilde den Schwerpunkt bei Wagner von der Arbeit am «Ring der Nibelungen» auf das Projekt «Tristan und Isolde» verschob.
Zwei der Lieder – «Im Treibhaus» und «Träume» – bezeichnete Wagner selbst als «Studie zu Tristan und Isolde». Das Lied «Träume» instrumentierte er 1857 auch selbst für Solovioline und kleines Orchester. Die anderen vier Lieder hat nach Wagners Tod Felix Mottl (1856–1911), Dirigent, Komponist und späterer Vertrauter von Cosima Wagner, für grosses Orchester instrumentiert. Es ist die Version, die heute am häufigsten zu hören ist, auch wenn andere Komponisten bis zu unseren Zeitgenossen versucht haben, dem Werk ein moderneres orchestrales Kleid zu verpassen.
Über die dichterischen Qualitäten der fünf Gedichte und die Reimkunst der Frau Wesendonck ist es leichter zu spotten, als diese durch bessere Texte zu ersetzen! Wagner müssen sie gefallen haben. Zeilen wie «Allvergessen-Eingedenken» sind von Wagners eigener Poetik mehr als nur infiziert! Wir hören jedenfalls in den zwei erwähnten Liedern Musik, die uns aus dem 2. Tristan-Akt vertraut ist: «O sink hernieder, Nacht der Liebe», oder im Lied «Im Treibhaus» eine transponierte Variante der Einleitungsmusik zum 9. Akt der Oper. Für Wagner war in dieser Zeit Mathilde das, was er als «Meine erste und einzige Liebe» bezeichnete. Da kriselte es freilich gewaltig in seiner Beziehung zu Ehefrau Minna. Und Cosima, der er zwar in seiner Zürich-Zeit schon begegnete, war erst am fernen Horizont der neue Stern in Wagners Frauenhimmel.
Die Lieder aber sind von einer Trennungsmelancholie und einer Vereinigungssehnsucht, die bewegt und berührt. Die Heimat der «niegeahnten Wonne»: das konnten nicht die Bedingungen sein, unter denen man in der Wesendonck-Villa und gleich nebenan im «Asyl» im damals erstaunlich fremdenfreundlichen und kulturaffinen Zürich zu leben gezwungen war. Da war ein Reich gefordert und angepeilt, das sich nur Jenseits alles Irdischen und im Unendlichen befinden konnte.
Die gewählte Einspielung
Man könnte beinah sagen: «Jessye at her best!» (Wenn es nur nicht einige andere Aufnahmen von ihr gäbe, die diese Auszeichnung auch verdienen würden!) Das war eine Produktion aus London, als Colin Davis und sie zusammen mit dem London Symphony Orchestra im Februar 1975 eine Aufnahme von Wagners Vorspiel und Liebestod aus «Tristan und Isolde» machten, verbunden mit den «Wesendonck-Liedern». (Oft werden diese auch als «Wesendonk-Lieder» bezeichnet, weil Wagners erster Verleger den Namen der Familie falsch geschrieben und gedruckt hat. Kam schon damals vor!)
Hier muss man nun ganz genau hinhören, wie Jessye Norman Wörter und Töne – unter Kontrolle eines hervorragenden Dirigenten – im Einzelnen gestaltet. Im ersten Gedicht, über den Engel, wo es ums Niederschweben und um das sich gen Himmel Heben geht: wird man dies singend und erzählend je besser machen? Oder im nächsten «Stehe still!» betitelten Gedicht: «Die Lippe verstummt in staunendem Schweigen» – und wir Zuhörenden haben den Eindruck: so nur muss staunendes Schweigen klingen!
«Stille wird’s, ein säuselnd Beben» – im Gedicht «Treibhaus», wie setzt man diese Seelenbefindlichkeit in Musik um? Wagner weiss es, Mathilde weiss es, und Jessye Norman weiss es ebenso gut. Auch für das sich Einhüllen in «Schweigens Dunkel» muss es doch eine Musik geben! Wagner erfindet sie. Jessye Norman erfühlt und vermittelt sie.
Zu jeder grossen Liebe gehört eine leuchtende Gegenwart. Aber nicht jeder ist eine beglückende Zukunft gewährt. Manche Liebe verwandelt sich realitätsbedingt in einen Traum. Selbst Träume kennen die Zeit. Manche wachsen, blühen auf, und – wie Mathilde Wesendonck sagt: «... verglühen / Und dann sinken in die Gruft.»
Jessye Norman hat uns Sonnen aufgehen und wieder ins Meer sinken lassen, Wutwolkenstürme entfesselt, Träume erweckt, Liebesglut entfacht, Schmerzen erspüren lassen, und sogar die Einsicht dafür geweckt, wie alles wohl ist, wenn es am Ende in die Gruft sinkt. Dafür ist sie – wie Musikfreunde es nie aus ihrem Seelenohr verlieren möchten – auf die Bühne und in Konzertsäle gegangen und hat für uns gesungen. Jetzt ist sie selbst in die Gruft gesunken.