Exquisite Skulpturen aus der Karawanenstadt Hatra gehörten zum Bestand des Museums, neben Gipskopien auch unersetzliche Originale; die Bilderstürmer pulverisierten sie mit Schlagbohrern und Vorschlaghämmern. Anfang März richtete sich die ikonoklastische Wut des Islamischen Staats gegen archäologische Stätten im Umland von Mosul, vorab die assyrischen Fundstätten Nimrud und Khorsabad, die erstere auf der Liste der irakischen Welterbe-Kandidaten. Und gleichzeitig ging die IS-Terrormiliz mit Planierraupen und Sprengstoff gegen Hatra 110 Kilometer südwestlich von Mosul vor. Die Karawanenstadt führt seit 1986 die Liste der irakischen Welterbestätten an.
Hatra, in einer weiten Ebene zwischen Euphrat und Tigris gelegen, wuchs aus einer bescheidenen assyrischen Siedlung zur Stadt auf. Als Etappenort auf dem Karawanenweg vom Persischen Golf zum Mittelmeer kam sie zu Reichtum und Einfluss. Ihr Schicksal und ihre Stadtwerdung waren auf das engste mit der Konsolidierung des Partherreichs (von der Mitte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts an) verbunden. Die Parther hatten eine Vorliebe für Rundstädte, die archetypisch das Universum abbildeten. Und Hatra ist eine solche Kreisstadt, ein Abbild des Kosmos, mit vier Toren nach den vier Himmelsrichtungen. Die drei Kilometer lange steinerne Stadtmauer echot den Reichtum Hatras, der zu schützen war: sie ist aufwendig mit nicht weniger als 163 Türmen und Bastionen bestückt. Das Stadtgebiet misst zwei Kilometer im Durchmesser. Im rechteckigen, 437 mal 322 Meter grossen Tempelbezirk in der Mitte standen hellenistische, parthisch-iranische, arabische und römische Heiligtümer. Reste von Kaufläden deuten an, dass der Tempelplatz auch die irdische Aufgabe eines Marktplatzes wahnahm. Hatra scheint sich clever mit seiner Rolle als Vasall des Partherreichs, als Sitz eines halb unabhängigen Klientelkönigs abgefunden zu haben. Von der Mitte des 2. christlichen Jahrhunderts an nannten sich die Kleinkönige Hatras vollmundig „glorreiche Könige der Araber“. Und dem arabischen Sonnengott Shamash weihten sie in Hatra einen Tempel.
Dreimal versuchten die Römer, gewiefte Belagerer und mit State of the Art-Belagerungsmaschinen üppig ausgestattet, sich Hatras zu bemächtigen – Kaiser Trajan im Jahr 116 und Septimius Severus in 197 und 199 – , aber dreimal blitzten sie ab. Im 3. Jahrhundert entspannte sich dann anscheinend das Verhältnis zu Rom. Schuld daran war der neue gemeinsame Feind, das iranische Reich der Sassaniden. Es bedrohte die Hatrener ebenso wie ihre parthischen Oberherren, und nicht zuletzt auch Rom. Im Jahr 240 oder 241 eroberte ein Sassanidenkönig, Ardaschir I. oder sein Sohn Schapur I., Hatra und legte es in Schutt und Asche. Ein Erdwall vor der Stadtmauer rund um die Stadt geht auf die mehrjährige sassanidische Belagerung zurück.
Für die archäologische Forschung, die im Irak sich lieber mit der kulturellen Wiege der Menschheit beschäftigte, blieb Hatra ein Nebenschauplatz. Weder Fisch noch Vogel, nicht ganz hellenistisch, nicht ganz iranisch-parthisch, weder ganz römisch noch ganz arabisch – der faszinierende kultisch-stilistische Mischmasch schreckte eher ab. Archäologen, die von 1903 bis 1914 unter Walter Andrae für die Deutsche Orientgesellschaft Assur ausgruben, machten auf Tagesausflügen in das nur 50 Kilometer entfernte Hatra erste systematische Untersuchungen. So professionell sie war: diese Befassung mit Hatra mutet doch noch mehr wie ein Seitensprung an. Für den Rest des Jahrhunderts gehörte Hatra ausschliesslich der irakischen Altertümerverwaltung. Diese unternahm ausgedehnte Wiederherstellungsarbeiten und legte Teile des Stadtgebiets frei; dabei profitierte sie davon, dass Hatra eine abgelegene Wüstenstadt gewesen war. Mangels Anwohnern waren die brachliegenden Ruinen nicht als Baumaterial rezykliert worden. .
Ende März 2015 gibt es noch keine nachprüfbare Schadenbilanz, das Ausmass der Zerstörungen durch den Islamischen Stadt ist noch nicht bekannt. Auch wissen wir nicht, wie viele Kunstobjekte verschont blieben, um in den illegalen Kunsthandel geschleust zu werden. Wenn wir uns aber wirklich von Hatra verabschieden müssen, darf der Beitrag eines Genfers nicht unerwähnt bleiben. Allerdings mindert er die Trauer des Abschieds nicht; ganz im Gegenteil. Der Kulturhistoriker Henri Stierlin führt in dem umsichtig recherchierten und glanzvoll bebildeten Buch „Les Cités du Désert“ (Fribourg 1987) über das jordanische Petra, das syrische Palmyra und das irakische Hatra überzeugend vor, was wir mit Hatra verlieren oder schon verloren haben. Ich kenne kein anderes Buch, das der Karawanenstadt würdiger gedenkt. – Jahr des Flugbilds: 1973 (Copyright Georg Gerster/Keystone)