Spätestens seit 1990, dem Ende des Kalten Krieges, gibt es international keine schweizerische Neutralität mehr. Der historische Begriff Neutralität war für die Schweiz bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Mittel, um nicht in Streitigkeiten zwischen den damaligen europäischen Grossmächten zu geraten. Ziel der Neutralität war es, den Zusammenhalt unseres Landes als Willensnation zu bewahren.
In der globalen Aussenpolitik des 21. Jahrhunderts, deren Schwergewicht in Asien liegt, ist schweizerische Neutralität indes gegenstandslos. Dies gilt auch für allfällige Neuauflagen von Grossmachtkonfrontationen, sei es zwischen China und den USA oder mit Blick auf ein erneut imperial ausgreifendes Russland. Gefragt von der Schweiz wäre vielmehr aktive Teilnahme an europäischer Konfliktbearbeitung.
Neutralität als diffuser Identitätsbegriff
Zugegeben: Mit Blick auf die anscheinend 96 Prozent aller Schweizer, welche die Neutralität beibehalten wollen, mag die hier als Ausgangspunkt dienende Diagnose vom bereits erfolgten internationalen Ableben der Neutralität als Provokation erscheinen. Oder eben doch nicht? – Es handelt sich um zwei verschiedene Dinge. Die Umfrage-Neutralität ist ein rein innenpolitischer, ja durchaus auch staatspolitischer Identitätsbegriff für fast alle Schweizer. Sie bedeutet im besten Falle, dass die Schweiz ein friedliches, auf Ausgleich bedachtes Land sein will. Meist strebte und strebt sie danach, es mit keiner Seite zu verderben, um mit möglichst vielen ungestörte Wirtschaftsbeziehungen zu unterhalten.
Die Neutralität als völkerrechtlicher, und speziell aussenpolitischer Begriff ist etwas anderes. Im 19. Jahrhundert geprägt, schrieb sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Schweiz nur noch vor, der Nato nicht beizutreten, solange sich in Europa zwei Militärbündnisse direkt gegenüberstanden. Dies ist seit 1990 nicht mehr der Fall, also besteht sowohl rechtlich, aber auch politisch keine Neutralitätsverpflichtung mehr für die Schweiz; sie wird auch international nicht eingefordert. Es gilt ohnehin festzuhalten, dass die schweizerische Neutralität, zumindest seit 1990, ausserhalb der Schweiz kein wichtiges Thema mehr ist.
Konstruktive Politik in KSZE und OSZE
Schaut man die jüngere Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik an, dann findet sich für die Zeit des Kalten Krieges bis 1990 ein einziges, immerhin wichtiges Beispiel, wo Neutralität international eine gewisse positive Funktion erfüllte. Es betraf nicht nur die Politik der Schweiz, sondern auch jene der drei anderen damaligen Neutralen: Österreich, Schweden und Finnland. Gemeint ist der sogenannte Helsinki-Prozess, als im Rahmen der KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, heute die Organisation OSZE) die vier Neutralen eine nützliche Funktion dort ausübten, wo die beiden Militärblöcke Nato und Warschaupakt Brückenbauer und Puffer brauchten, um allseits gewollte Resultate akzeptieren zu können.
Der damaligen schweizerischen Aussenpolitik gereicht es zur Ehre, dass Bern dabei auch für menschenrechtliche Grundsätze einstand und mit ihrem Einsatz zu deren Verankerung in der Schlussakte von Helsinki beitrug. Das war aber keine Neutralitätspolitik, sondern die mutige Aussenpolitik einer westlichen Demokratie, welche auch in ihren Aussenbeziehungen für ihre staatstragenden Werte einsteht.
Für das Jahr 2014 wurde der Schweiz die OSZE-Präsidentschaft deswegen anvertraut, weil sie als den Grundwerten der Organisation verpflichtetes Mitglied bekannt ist. Als Präsident kann man durchaus gleichzeitig prinzipientreu und diskret sein. Diskret, diplomatisch eben, meint hier, dass man keinen der Hauptprotagonisten unnötig provoziert. Konkret kann man also Putins Vorgehen in der Ukrainekrise zwar sehr klar als mit den Werten der Organisation (und der Schweiz) unvereinbar bezeichnen, ihm aber gleichzeitig eine Türe offen lassen. Die Grenze zwischen Diskretion und Leisetreterei ist indes schmal. Wo sie liegt, kann und soll jedes Mal kontrovers diskutiert werden.
Neutrale Haltungen ohne Neutralitätsstatut
Global gesehen gibt es durchaus auch heute noch neutrale Positionen mit Bezug auf einen einzelnen Konflikt oder auch eine grundsätzliche Frontstellung. Das Asean-Land Indonesien beispielsweise versucht, bei direkter Konfrontation zwischen China und einzelnen Asean-Ländern einer eindeutigen Stellungnahme aus dem Wege zu gehen, so im Fall des Konflikts zwischen China und den Philippinen um Inseln im Südchinesischen Meer. Auch gegenüber der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen Beijing und Tokio setzt Indonesien auf Konfliktvermeidung.
Ein eigentliches Neutralitätsstatut, wie es von der damaligen internationalen Gemeinschaft im 19. Jahrhundert für die Schweiz und Schweden sowie nach dem Zweiten Weltkrieg zusätzlich für Österreich und Finnland geschaffen worden war, existiert aber nicht mehr.
Ein solches Statut ist in Europa weder nötig für das Ganze, noch bringt es einzelnen Ländern wirklich Vorteile. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Schweiz. Falls sich die Ukrainekrise durch weitere russische Aggression von der Krim endgültig auch in die Ostukraine und anderswo in Osteuropa ausweiten sollte, und dann von der EU schärfere Sanktionen verhängt würden, kann und muss die Schweiz mitziehen. Sie kann nicht anders, da ihre Wirtschaftsinteressen sehr schwergewichtig bei westlichen Partnern liegen. Sie muss mitziehen, da ein Abseitsstehen, einschliesslich der eigenartigen Praxis des Courant normal, erstens unseren Grundwerten nicht entsprechen würde und zweitens einer Stellungnahme für Putin gleich käme.
Beteiligung an Sanktionen
An dieser Stelle sei auch mit dem gerade in der Schweiz oft gehörten, aber fragwürdigen Argument aufgeräumt, Wirtschaftssanktionen würden erstens nie politischen Erfolg bringen und würden zweitens immer die Falschen treffen. Beides trifft nicht zu. In einigen grossen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte, bei denen praktisch die gesamte Weltgemeinschaft einem Aussenseiter mit unakzeptablem Verhalten gegenüberstand, haben Sanktionen entscheidend dazu beigetragen, letzteren zu Konzessionen zu zwingen. Beispiele sind das koloniale Rhodesien, das Apartheid-Südafrika, Burma/Myanmar und der Iran. Zu künftigen Beispielen dürfte auch Nordkora zählen.
Wirtschaftssanktionen, welche ein Volk mehr treffen als seine Regierenden, sind oft stumpfe Instrumente. Genau das hat aber dazu geführt, dass im Schosse der Uno mit reger schweizerischer Beteiligug sogenannte Targeted Sanctions entwickelt wurden. Die Sanktionen gegen einzelne direkt Verantwortliche für die widerrechtliche Annexion der Krim sind ein Beispiel für solche gezielten Sanktionen. Sie sind keineswegs folgenlos. Der Rubel hat an Wert verloren, die Nettoabflüsse Russlands sind gewaltig gestiegen, russische Anleiher müssen im Ausland höhere Zinsen zahlen und das BIP- Wachstum des Landes hat sich bei Null eingependelt. Gezielte Sanktionen wirken eben nicht nur direkt, sondern auch indirekt über internationale Märkte und deren Erwartungen.
Die volle Teilnahme der Schweiz an Sanktionen gegen einen klar gegen Grundwerte verstossenden Aussenseiter wird in Zukunft nicht mehr genügen. Auch das Prinzip sicherheitspolitischer Abstinenz im Ausland als Teil einer, wie gezeigt, obsoleten Neutralitätspolitik wird vollends zur reinen Schutzbehauptung für andere Interessen oder mangelnde Bereitschaft, Werte auf internationaler Ebene nicht nur zu beschwören, sonder auch dafür einzustehen. Die zweihundert Mann starke Swisscoy-Truppe im Rahmen der internationalen Kfor in Kosovo ist der erfreuliche Beginn eines gesteigerten internationalen Engagements der Schweiz; mehr muss folgen.
Der 2. Teil dieses Beitrags folgt am 4. Oktober.