Erstmals in der Nachkriegsgeschichte konnten die Parteien der „Mitte“ nicht einmal gemeinsam die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinen. Was treibt die Menschen an die „Ränder“?
Man muss nicht über prophetische Gaben verfügen, um vorherzusagen, dass das Ergebnis der Landtagswahlen vom Sonntag in Thüringen die ohnehin schon recht labil gewordene Stabilität im deutschen Parteienwesen weiter ins Wanken bringen wird. Gewiss, es war „nur“ eine Regionalwahl. Aber das Votum zum neuen Erfurter Landesparlament war aus mehr als einem Grund besonders bedeutsam. Zwar konnte der unbestreitbar persönliche Wahlsieger, Bodo Ramelow, in einer Koalition mit SPD und Grünen schon während der vergangenen fünf Jahre als (erster „linker“) Ministerpräsident regieren. Aber stärkste Kraft war in dieser Zeit immer noch die CDU. Das hat sich nun geändert. Mit 31 Prozent der Stimmen ist jetzt auch „Die Linke“ Nummer eins, während die einstige „Landespartei“ CDU noch einmal dramatisch verlor und mit 22 Prozent sogar hinter dem Rechtsausleger „Alternative für Deutschland“ (AfD) bloss noch auf dem dritten Rang landete.
Das Fiasko der politischen Mitte
Doch das wirklich Dramatische für das (zumindest traditionelle) innere Demokratiegefüge im Land ergibt sich aus der Tatsache, dass erstmals in der Nachkriegszeit die Kräfte der politischen „Mitte“ nicht einmal mehr gemeinsam die Stimmenmehrheit erringen konnten. Sieger sind stattdessen die bisherigen „Ränder“ – die mehrfach umgetauften und heute unter „Die Linke“ firmierenden Nachfolger der vor genau 30 Jahren (nicht zuletzt von den Thüringern) verjagten DDR-Staatspartei SED und die erst knapp fünf Jahre alten Emporkömmlinge namens AfD auf der äussersten Rechten des politischen Spektrums. Das kann man nicht einfach abtun etwa mit Hinweis auf die begrenzte Aussage einer Regionalwahl. Denn: Was in Thüringen geschah, hat schliesslich Vorläufer. Zwar war am 1. September in Brandenburg und Sachsen der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der „Linken“ noch gestoppt worden, nicht jedoch jener der Rechtsaussen-Partei.
Zudem hatten auch in Dresden und Potsdam die einstigen „Grossen“, SPD und CDU, gehörig Federn lassen müssen. Alle drei dieser Länder liegen im Osten Deutschlands. Also dort, wo die Menschen vor drei Jahrzehnten mit grossen persönlichen Risiken das kommunistische Joch abgestreift hatten. Was also treibt heute offensichtlich erhebliche Teile der damals Aktiven und heute über 60-Jährigen dazu, sich in hohem Masse (40 Prozent) wieder den alten Kräften zuzuwenden und „Die Linke“ zu wählen? Und wie kann es sein, dass die Mehrheit der Generationen zwischen 18 und 44 Jahren den demagogischen nationalistischen und fremdenfeindlichen Sprüchen der „Alternativen“ Beifall zollt? Die Ergebnisse der Meinungsumfragen bringen da wenig Erklärendes – eher im Gegenteil. So beklagten zum Beispiel 70 Prozent der befragten Thüringer ihr Schicksal als angebliche „Bürger zweiter Klasse“ in Deutschland; bei den AfD-Wählern waren es sogar 86 Prozent. Gleichzeitig aber zeigten sich ebenfalls 86 Prozent mit der Entwicklung im Land seit der Wiedervereinigung zufrieden!
Doppelter Personen-Entscheid
Keine Frage, der Aufstieg der „Linken“ bis an die Spitze in Thüringen ist untrennbar verbunden mit der Person Bodo Ramelow. Der einstmals sozialdemokratische Gewerkschaftssekretär war 1990 nach Thüringen gekommen und dort ins kommunistische Lager gewechselt. Unter seiner Führung erreichte die Partei immer neue Erfolge in der scheinbar „sicheren“ CDU-Hochburg. Diese war vor allem unter ihrem ersten „freien“ Ministerpräsidenten Bernhard Vogel zu einem modernen, wirtschaftlich florierenden und auch touristisch blühenden Land entwickelt worden. Die vor allem auf Vogel zurückgehenden Erfolge wurden freilich sowohl von seinen Nachfolgern – Dieter Althaus und Christine Lieberknecht – wie von der CDU insgesamt für selbstverständlich angesehen und entsprechend leichtfertig vergeigt. Kurzum, die Thüringer Bürger pfiffen mehr und mehr auf Parteitreue und wechselten. Nur eines änderte sich nicht. Die Wahl galt immer Persönlichkeiten.
Bernhard Vogel wurde vor allem „als Person“ gewählt – beliebt, populär und erfolgreich. Und genau dasselbe gilt mittlerweile für Bodo Ramelow. Auch dessen Beliebtheitswerte übersteigen bei weitem jene seiner Konkurrenten. Ausserdem hat sein Politikstil genau wie dessen Inhalt längst alle Ängste zerstreut, unter ihm werde der Sozialismus zu neuer Blüte geführt. In Erfurt regiert Pragmatismus mit Sinn für die Machbarkeit. Interessanterweise steht auf der äussersten Gegenseite – bei der rechtpopulistischen AfD – ebenfalls eine Person im Fokus: Björn Höcke. Auch dort ging es, bei genauem Hinsehen, um eine Personenwahl. Freilich unter umgekehrten Vorzeichen. Die Linke wurde am Sonntag w e g e n Ramelow gewählt, die AfD hingegen t r o t z Höcke. Diesen – in Hessen beurlaubten Gymnasiallehrer für Sport und Geschichte – als „rechtsextrem“ einzustufen, ist bestimmt keine üble Nachrede. Seine Teilnahmen an Aufmärschen gewalttätiger Horden sowie seine Sprüche und politischen Aussagen sind Legion. Das sagen selbst grosse Teile von AfD-Anhängern – und wählen trotzdem diese Partei. Sehr viel bizarrer kann Wählerverhalten, vor allem mit engem Bezug auf Personen, eigentlich kaum sein …
Keine überzeugenden Köpfe
Was nun? Für Niederlagen gibt es bekanntlich nie „ungünstige Zeitpunkte“. Ungeachtet dessen ist das gegenwärtige Datum besonders unangenehm. Mittlerweile werden von den Beteiligten, und damit natürlich auch für die Öffentlichkeit, ja sogar Kommunalwahlen als „Signale“ für den „Bund“ gewertet. Kein Wunder daher, dass in den Berliner Parteizentralen die Aufregung gross ist. In Thüringen haben die traditionellen Volksparteien CDU und SPD seit 2014 jeweils rund ein Drittel ihrer Wähler verloren. Dieser Trend war auch bei den vorangegangenen Urnengängen in anderen Ländern ablesbar. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf „Berlin“ – vor allem auf die SPD. Die vollmundig angepriesene Mitgliederbefragung mit 23 Bewerberveranstaltungen in der ganzen Republik war, nüchtern betrachtet, ein Flop. Nur knapp mehr als die Hälfte der Genossen überhaupt beteiligte sich an der Suche nach einer neuen Parteiführung. Nun muss eine Stichwahl her, und dann entscheidet im Dezember der SPD-Parteitag über diese wichtige Personalie.
Aber die eigentliche Frage auf dem sozialdemokratischen Konvent heisst: Will die Partei weiter als Juniorpartner der CDU/CSU die Koalition fortsetzen? Oder treibt es die – von Niederlage zu Niederlage zermürbten – Genossen aus dem ja von vornherein ungeliebten Bündnis? Nun hat die Partei auch noch das seit 1946 immer besetzte Oberbürgermeisteramt in Hannover verloren. Vielleicht also werden Neuwahlen in Deutschland unvermeidbar sein. Und genau daran wird das Dilemma bei den „Altparteien“ sichtbar. Mag sein, dass die SPD bis dahin ihre Führungsfrage beantwortet haben wird. Bei der Union hingegen stünde sie dann an. Angela Merkel steht als künftige Regierungschefin und Parteivorsitzende der CDU nicht mehr zur Verfügung. Ihre Nachfolgerin im Parteiamt, Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, hat bislang nicht wirklich Fuss fassen können. Mit den ja schon länger bereitstehenden Bewerbern Friedrich Merz und Jens Spahn scharren zwei schwergewichtige Partei-„Freunde“ bereits wieder ordentlich mit den Hufen. Das ändert freilich nichts an dem Grundproblem, dass in der deutschen Politik die überzeugenden Figuren fehlen. Und es sind halt immer vor allem Personen gewählt worden; Parteiprogramme liest niemand.
Und wie geht es in Thüringen weiter? Die bisherige Koalition aus Linken, Grünen und Sozialdemokraten ist abgewählt. Der vom CDU-Spitzenkandidaten Mike Mohring anvisierte Machtwechsel ist – mangels Masse – ausgeschlossen. Mit der zweitstärksten Kraft AfD will niemand zusammengehen. Eine ähnliche Festlegung hat die CDU aber auch hinsichtlich der Linken ausgesprochen. Allerdings könnte sich tatsächlich in Erfurt eine interessante, vielleicht sogar historische, Entwicklung vollziehen. Während nämlich die Parteiführung der CDU in Berlin nach wie vor auf einem „Nein“ gegenüber den SED-Nachfolgern beharrt, gehen vom thüringischen Landeschef Mohring anders klingende Signale aus. Ein Bündnis der Erben Adenauers mit denen eines Walter Ulbricht? Allein der Gedanke daran treibt vermutlich nicht nur den alten Kämpen die Haare zu Berge. Indessen, anders als in anderen Bundesländern, gibt es in Thüringen keine Frist, innerhalb derer nach einer Wahl eine Regierung gebildet sein muss. Theoretisch also könnte Bodo Ramelow „geschäftsführend“ bis zum Ende der neuen Wahlperiode ohne eigene Mehrheit weiter machen. Allerdings könnten auch – sozusagen in Ruhe – Gedanken aufkommen und sich Entwicklungen vollziehen, die jetzt immer noch als undenkbar gelten …