Diese Frage ist nicht trivial. Denn ihre Beantwortung verlangt, dass wir uns selber über die Schulter gucken können: Warum ticken wir so, wie wir ticken? Im Mainstream der öffentlichen Diskussionen wird dieses Problem auf einfache Weise umgangen, indem moralische Urteile gefällt werden: Gier und Konsumismus, Manipulation und skrupellose Spekulation gehen Hand in Hand, haben die gegenwärtige Misere verursacht und würden erst dann verschwinden, wenn die Menschen der Stimme der ethischen Vernunft endlich Gehör schenkten.
Warum aber setzen sich ethische Werte so wenig durch? Diese Frage ist deswegen heikel, weil derjenige, der ihr nachgeht, schnell in den Ruf des Zynikers gerät. Denn er beschreibt die Wirksamkeit derjenigen Mechanismen, die jenseits ethischer Normen die Gesellschaft bestimmen. Der bekannteste Soziologe, der das betrieben hat, war Niklas Luhmann, und prompt hat er sich den Vorwurf des „verspielten Zynismus“ seines Kollegen Ralf Dahrendorf zugezogen.
Zur Freiheit verurteilt
David Bosshart, Direktor des Gottlieb Duttweiler Instituts in Rüschlikon bei Zürich, teilt mit Luhmann die analytische Schärfe. Er beschreibt die Gesellschaft nicht aus einer Perspektive moralischer Bewertung. Ihm geht es um die Dynamik, die uns alle erfasst hat und die es uns so schwer macht, vertraute Bilder und Erwartungen hinter uns zu lassen.
In seinem Buch, The Age of Less, schreibt er: „Marketing und Werbung haben in den letzten Jahrzehnten einen Superjob gemacht. Expect more! - Aber was eigentlich? Wir sind heute fast schon zu Laborratten geworden: hochgezüchtet, hypersensibel und desorientiert.“ Und gleich zu Beginn des folgenden Absatzes heisst es: „Wenn die Ökonomie uns keine Antwort mehr gibt, werden wir uns selbst daranmachen müssen, sie zu finden. Wir sind quasi zur Freiheit verurteilt.“
Der Kult der Markenprodukte
Man ersetze das Wort „Ökonomie“ durch „Religion“ und schon wird in aller Schärfe klar, was Bosshart meint. Die Ökonomie mit ihrer Warenwelt ist zur Religion geworden. Deswegen fällt es uns so schwer, Abschied vom „Immer-mehr“ zu nehmen. Denn damit gehen uns die grundvertrauten Anschauungen unserer Religion verloren. Bei der Feststellung, wir seien „zur Freiheit verurteilt“, handelt es sich um ein – ironisch verstecktes - Zitat von Jean-Paul Sartre, der die existentialistisch verstandene Freiheit gegen die überkommene christliche Religion gerichtet hat.
Indem Bosshart unsere kapitalistische Wirtschaft als eine Religion begreift, deren Kult in den Waren besteht, beschreibt er unsere Fixierung auf das, was unaufhörlich als neue Reize auf uns einströmt. Wir können auf diese Reize eben so wenig verzichten wie die Gläubigen auf den Trost oder die Süchtigen auf ihre Droge. Das ist der Kern von Bossharts Analyse, und er vollzieht einen radikalen Perspektivenwechsel.
Auf Kosten der Welt
Bosshart möchte mit seinem Buch Aspekte der neuen Freiheit beschreiben. Da wir alle zunächst einmal Konsumenten sind, empfiehlt er dazu „die Leitfrage: Was brauche ich überhaupt? Diese Frage mag sich seltsam anfühlen, in ihr schwingt für unsere überkonsumierende Gesellschaft eine Prise Existenzminimum und Mindestlohn mit. Aber ihr zentraler Bestandteil ist ein ganz anderer – nämlich Selbsterkenntnis.“
Bosshart ist natürlich nur allzu klar, dass sich ein solcher Riesentanker wie unsere Gesellschaft nicht schon dadurch umsteuern lässt, dass möglichst viele Menschen in sich gehen. Entsprechend analysiert er Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre, wozu insbesondere die „Extremophilie“ der Finanzjongleure gehört: Indem sie immer wieder dasselbe machen und dabei die Renditen sinken, müssen sie dasselbe immer schneller, immer extremer vollführen, um wenigsten noch einen kurzfristigen Nutzen zu erzielen – natürlich auf Kosten der gesamtem übrigen Welt einschliesslich der Zukunft.
"Every little helps"
Die Grenzen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts als Ideologie des ungehemmten Kapitalismus bringt Bosshart so auf den Punkt: „Biotechnologie, Gentechnologie und Pharmaforschung: Wir haben hohe Erwartungen in die aus ihrer Grundlagenforschung entstandenen Produkte gesetzt – aber sie kommen nicht wirklich voran.“ An anderer Stelle allerdings schreibt Bosshart, dass ohne den technischen Fortschritt die Sicherung der Welternährung auf Dauer nicht möglich ist. Die jetzige ungleiche Verteilung der Nahrungsmittel und ihre zum Teil übermässige Konsumption bringt er auf die Pointe: „Survival of the fattest.“
Auch David Bosshart hat keinen schlüssigen „Plan“ für die Überwindung der Krise oder besser gesagt: der akuten Selbstgefährdung unserer Welt. Aber er verweist auf Tendenzen, die in seinen Augen in die richtige Richtung deuten: soziale Netzwerke, die der Kommunikation, dem Erleben menschlicher Verbundenheit einen höheren Stellenwert geben als dem Konsum, oder neue Möglichkeiten, Besitz – wie den an Autos – zugunsten von Teilhabe wie dem Carsharing aufzugeben. Und was den Wert der Neuorientierung jedes Einzelnen betrifft, so schreibt er: „Every little helps.“
Anleihen an der Religion
Der entscheidende Punkt seines Beitrages zur gegenwärtigen Krise des Westens liegt aber in seiner Analyse des „Shopping“ als Religionsausübung. Lässt man Bossharts Beschreibungen auf sich wirken, dann kann man den eigenen schleichenden Bewusstseinswandel der vergangenen beiden Jahrzehnte erspüren: Es ist wahr, dass wir durch das Trommelfeuer der Werbung, durch Testberichte allüberall, durch Shopping-Malls und durch den „Lifestyle“ unserer Peer-Groups unmerklich, aber damit umso fester in den Kokon der Warenwelt eingesponnen worden sind. Das Dogma dieser Religion lautet, dass das Neue immer besser als das Alte ist und dass man das Neue unter keinen Umständen versäumen darf.
Was Bosshart in seinem neuen Buch nicht erwähnt, aber was als Hintergrund unverzichtbar ist: Zusammen mit dem Philosophen Norbert Bolz hat er 1995 ein Buch unter dem Titel: „Kult-Marketing. Die neuen Götter des Marktes“ herausgebracht. In diesem Buch haben die beiden Autoren vor dem Hintergrund ethnologischer und philosophischer Analysen beschrieben, wie das moderne Marketing durch „Vulgarisierung“ eine ungeheure Wucht entfaltet. Unter "Vulgarisierung" verstehen sie die Orientierung am Massengeschmack. Nur das, was den Beifall der Masse findet, verkauft sich gut.
Dazu kommt das Bedürfnis der Massen nach "Kulten". Die Masse möchte etwas haben, das sie verehren kann. Sie braucht etwas, das "Kult ist". Die Aufgabe des Marketing besteht also darin, das aus der Religionsgeschichte bekannte Bedürfnis nach kultischer Verehrung auf die jeweiligen Markenprodukte zu lenken. Und das ist dem Marketing, wie er jetzt im Rückblick schreibt, hervorragend gelungen.
Die Kehrtwendung
Diese Religion ist nun in den Augen Bossharts zu ihrem Ende gekommen, weswegen wir „quasi zur Freiheit verurteilt“ sind. Er selber vollzieht mit dieser Analyse eine Kehrtwende, die sich bereits in den vergangenen Jahren zum Beispiel mit seinem Buch über Walmart, „Billig. Wie die Lust am Discount Wirtschaft und Gesellschaft verändert“, angekündigt hat. Aber es ist bemerkenswert, die Schärfe der Kehrtwendung zu markieren.
Besonders gut erkennt man diese Wende am Gebrauch des Begriffs Ethik. Hiess es noch 1995: „Ethik verschafft die narzistische Befriedigung, sich für besser halten zu dürfen als die anderen“, so schreibt Bosshart jetzt, es sei fatal, wenn wir „moralisch anspruchslos“ würden. Zudem: „Wie will man qualitativ gute Produkte und Dienstleistungen verkaufen, wenn ethische und ästhetische Motive fehlen?“
Das Mitreissende an Bossharts Argumentation besteht darin, dass er einen Bewusstseinswandel beschreibt, der bereits auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen stattfindet, aber noch verstärkt werden muss. Der Leser ist also nicht länger die "hochgezüchtete Laborratte", sondern ein Mensch, der, wie einmal der Philosoph Hans Jonas gesagt hat, "ansprechbar ist."
David Bosshart, The Age of Less. Die neue Wohlstandsformel der westlichen Welt, Murmann Verlag, Hamburg 2011