Wissen wir’s nicht längst? Diese Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft ist über das ihr und uns Zuträgliche hinausgewachsen. Da sind schon alle Merkmale des Kolossalen - Schwerfälligkeit, Selbstgefälligkeit, Genügsamkeit (genügsam nur nicht im Expandieren). Kann ein solcher Apparat geeignet sein, die zahlreichen Programmträger im Geiste ihrer Verantwortlichkeit zu führen? Führt denn nicht vielmehr ein diffuser, für emanzipatorisch gehaltener und als Vierte Gewalt hochgedachter Progressismus, dem die dienende Funktion fremd geworden ist? Und erlebten wir im weiten Vorfeld der Abstimmung nicht etwas gar viel Selbstverliebtheit?
Ein Staat im Staate?
Oder war es – aus dem ungewohnten Gefühl der Anfechtbarkeit heraus – einfach nur, aber reichlich Imagewerbung und Anbiederung, dazu passend die entnervende Trailer-Wucherung, dieses Allzuviel an aufdringlicher Programm-Anpreisung? «Kurzum», sagt ein ansonsten gleichmütiger Freund in unserer Gesprächsrunde und will damit den Disput beenden, «kurzum, ein Staat im Staate, der sich gehobene Saläre gönnt und der von einer dienstbaren Medienministerin gehegt statt gezügelt wird …»
Doch es ist kein Ende im Disput. Der beiläufige Hinweis auf die Entlöhnungspraxis sticht eine diskret verhüllte Beule auf – das offiziell preisgegebene statistische Mittel lädt ja förmlich dazu ein, angeblich verbürgbare Ziffern zu nennen: Bundesrats-Gehälter für Gaukler und Sport-«Moderatoren»? Vor die Kameras und Mikrophone drängen sich nun weiss Gott nicht nur Ausnahme-Begabungen, und doch scheint dieses Herausgehobensein masslos überhonoriert, und sei’s durch generös tolerierte Nebeneinkünfte …
Geifernder Eifer in den Social Media
Es scheint so. Auf den ersten Anschein kommt ein Zweifaches an Vermutungswissen, das sich im Wirtshaus oder Bus flugs zu unumstösslichen Fakten verfestigt. Selbst in Zirkeln, welche die zivilisierte Diskussion über Abstimmungsvorlagen gewohnt sind, bricht in der SRG-Sache eine unzähmbare Wut hervor, die dem Versuch des Differenzierens und Argumentierens in kürzester Zeit den Schneid nimmt.
Der geifernde Übereifer, den die «Sozialen Medien» und die «Chatrooms» öffentlichkeitsfähig machen, tut anscheinend bereits seine stilbildende Wirkung und droht die an sich schon leicht irritierbare «Streitkultur der Demokraten» zu versauern.
Die falsche Abstimmung
Volksinitiativen wie diese kurzsinnige, ratzekahle «No Billag» ohne eine formulierte Gegenposition für spruchreif zu wähnen, ist eine demokratiepolitische Waghalsigkeit ohnegleichen. Unsere Demokraten der ersten Ordnung, die vom Volk bestellten Parlamentarier und deren Regierungsleute, sollten sich auch in der Verantwortung dafür sehen, dass der Meinungsprozess sich nicht geradewegs in die Gosse und zum Gully ergiessen kann. Auch unsere (halb-)direkte Demokratie, die ohne Verfassungsgerichtsbarkeit auskommt, bedürfte der sorgenden Aufsicht und, gegebenenfalls, der Beschränkung – allzumal, wenn grosse Parteien wie die SVP dazu neigen, den Volksspruch zu fetischieren. Nicht jeder Unmut verdient gleich eine Verfassungsnorm.
Ein vertretbarer Abstimmungs-Gegenstand wäre die bundesrätliche Medienpolitik gewesen, eine Klärung von Aufgabe und Grenzen des öffentlich-rechtlichen, abgabepflichtigen Rundfunks: SRG-Konzession wofür? Für eine unterrichtende und, säuberlich getrennt, unterhaltsame «Grundversorgung» über Radio und Fernsehen? Oder für alle denkbaren Lustbarkeiten durch alle erdenklichen Medien, Kanäle und «Plattformen»? Mediale Arbeitsteilung oder mediale Hegemonie?
Aus Fragestellungen solcher Art könnte der Giacomettistrasse, dem SRG-Hauptquartier, allerdings ein Ende bisher verfolgter Strategie blühen, Marktsättigung durch Marktsegmentierung, jeder Zielgruppe ihren Sound …
Also zurück zum Ausgangspunkt? Also Komprimierung statt Ausdehnung, zurück auf Feld 1, zu den «Landessendern» (mit je einem zweiten Programm)? Einem Ja zum «Billag»-Nein folgte mit aller Wahrscheinlichkeit eine zerstörerische Zerstückelung, die mit der SRG-Stückelungs-Strategie fraglos nicht gemeint war.
Vernachlässigtes Radio in der Billag-Debatte
Eine disziplinierte Erörterung der undisziplinierten Initiative fällt so schwer, weil institutionelle und programmliche Gesichtspunkte sich fast unvermeidlich vermengen. Und bei den vorherrschend grollenden «Würdigungen» der Programmleistung spielt ebenso unvermeidlich die Bildschirm-Fauna eine Hauptrolle. Wobei durchaus nicht nur dumpfer Verdruss und Überdruss sich Luft verschaffen.
Lassen wir vorweg jedoch unser Ohr sprechen. Das Radio sieht sich in der öffentlichen Debatte etwas vernachlässigt. Ob zum Beispiel die extrem bemühte und gleichermassen bemühende «Spasshaftigkeit» einiger Animatoren des ersten Programms einem sicher nicht einheitlich einfältigen Publikum zumutbar ist?
Zugegeben, es gab vor Jahrzehnten schon Radioleute, die ihren ganz speziellen Humor für mehrheitsverträglich hielten. Und doch, ein Ueli Beck war eine Ausnahme und als solche tolerabel. Heute blödelt sich nicht allein (wenn auch vor allen andern) ein Reto Scherrer in den Äther, der schon modulatorisch schwer zu ertragen ist. Schäufele, der gute alte Radio-Briefkastenonkel und Hüter einer vertretbaren Medienrhetorik, dem die Mikrophon-Anwärter einst vorsprechen mussten, hätte zu Becks Zeiten solche Schwadroneure von den Sprechkabinen ferngehalten.
Aber ja, das sind – soweit man sich in Fragen der Professionalität nicht mehr verständigen kann – ganz einfach Geschmacksfragen, die nicht jedermanns Sache sind und über die sich bekanntlich kaum streiten lässt.
Flausen der Selbstdarbietung
Im ernsten Fach der Information geht’s dann allerdings um etwas mehr als um beliebige Geschmacksurteile. Nennen wir etwa (mit Blick auf die «Tagesschau») den schneidigen Vorturner einer neuartigen Präsentatoren-Gymnastik ebenfalls beim Namen: Florian Inhauser. Einer jeden Nachricht, die wir gern sachlich, im Stile der ARD-Praxis, vermittelt haben wollten, gibt er einen persönlich eingefärbten, stets leicht ironischen, schwer originalistischen Vorspann, der wohl hauptsächlich dem Anschein seiner Exzellenz dienen soll. Mit verkniffenem Blick, als wär’ er von seiner Luzidität geblendet, ruft er vom Teleprompter seine gedrechselten Sätze ab, die uns empfänglich machen sollen für die folgende Nachricht. Ob wir uns nach i h r richten können? Der Vorspruch macht uns unsicher.
Derlei Flausen der Selbstdarbietung machen natürlich Schule, unabhängig von den Fertigkeiten der Nachahmer(innen). Und ebenso «natürlich» lassen ihnen weite Teile des fernsehenden Publikums all die Keckheiten amüsiert durchgehen.
Unterrichtung und Unterhaltung – bitte keine Vermischung
Kleinliche Beanstandungen also? Nein. Wir sprechen von einem Service public, der nicht zur Sprechblase verkommen soll. Wir sprechen von journalistischer Deontologie, einem Fremdwort, das als Pflichtenlehre übersetzbar und umsetzbar bleiben müsste. Wir sprechen von Führungsproblemen. Wenn Chefredaktoren und Direktoren der öffentlich-rechtlich organisierten SRG (womöglich billigend) zulassen, dass Nachrichten-Vermittler sich in grotesker Selbstüberschätzung v o r die Sache stellen, statt hinter sie, dass Elemente des «Infotainments» sich etablieren dürfen, Tages-Show statt Tagesschau, dann haben wir es mit einer sträflich nachgiebigen Interpretation ihres Mandats zu tun.
In einer abgabefinanzierten «Anstalt» sollten der grassierenden Vermischungs- und Verwischungstendenz von Unterrichtung und Unterhaltung klare Grenzen gesetzt sein. In den durch ultraliberale Total-Vermarkter herbeigewünschten Privatmedien mag das anders gesehen und praktiziert werden.
Das Positive überwiegt
Jenseits des primären Nachrichtenstoffs gibt es nun freilich SRG-Angebote in höchst willkommenen Mischformen – in Gefässen somit, die der Interpretation und einem hintergründigen Verständnis förderlich sein können. Mit gutem Willen darf man etwa «10vor10», die «Rundschau», den «Kassensturz» oder «Eco» dazurechnen, nicht zu vergessen unterhaltsame Information, wie sie die wöchentliche Radiosendung «Musik für einen Gast» anbietet, besonders vorbildlich in der Gästeauswahl und Gesprächsführung durch Hansjörg Schultz.
Magazin-Formen wie «Echo der Zeit» oder auch «Kontext» sind, um beim Radio zu bleiben, gewöhnlich von einem hohen Informanten-Ethos getragen, und auch Interviews wie das «Tagesgespräch» im «Rendez-vous am Mittag» sind untadelig. Nennen wir auch hier pars pro toto ein paar Namen, welche die Aufmerksamkeit und das Vertrauen der Hörerinnen und Hörer seit Jahr und Tag verlohnen: Iren Meier, Isabelle Jacobi, Fredy Gsteiger, Patrik Wülser, Martin Durrer, Philipp Scholkmann, Beat Soltermann.
Fernsehend «begegnen» uns mitunter Damen, die vielseitig talentiert zu sein scheinen; in Erinnerung ist mir zum Beispiel die grandiose Präsentation der insgesamt eindrücklichen Sendung zur Eröffnung der Gotthard-Bahnverbindung: Susanne Wille. Und von den Herren, die aus dem Ausland berichten, heben sich Pascal Weber, Adrian Arnold und Sebastian Ramspeck heraus.
Eine auf Vollständigkeit angelegte Liste der Erfreulichkeiten wäre vermutlich etwas länger als eine solche der Ärgernisse. Unsere Wahrnehmung ist lückenhaft, Zustimmung und Ablehnung nicht frei von Beliebigkeit. (Dass ich’s in meiner TV-Zeit auch nicht allen recht machen konnte, ist nicht vergessen, obgleich es lange her ist!)
Wer kümmert sich um die vielen Minderheiten?
Risikolos ist endlich nur die Prognose, dass eine mehrheitliche Absage an die SRG-Gebühr eine extrem marktgesteuerte Medienordnung favorisieren würde, die vielen Minderheiten unseres Landes vielerlei schuldig bliebe. Der jetzt schon nicht gerade verwöhnten Minderheit, die es mit dem «guten Geschmack» hält, drohte wohl eine armselige Nischen-Existenz. Und ziemlich sicher litte generell der öffentliche Vernunftgebrauch.
Was hingegen geschähe nach einem (bestimmt nicht besonders üppigen) Nein-Überschuss? Ein spätes Erwachen der Medienpolitik und mit ihr der Reformbereitschaft? Durch sie schliesslich eine SRG der knapperen Mittel, mithin eines weniger zerdehnten Service-Begriffs und eines rigoroseren Qualitätsmanagements? Das stünde zu hoffen, ja, dürfte füglich erwartet werden. Eine erneuerte, gestraffte SRG müsste nicht partout «bi de Lüt“ sy oder im «Fadenschein» von «Glanz und Gloria», dafür entschiedener noch bei der Sache, dem Dienst an der Wahrheit in der Politik und an der Heiterkeit in der Kunst, der Kultur insgesamt – eine tägliche Gemeinschaftsstiftung gewissermassen.
Es gibt Stimmen, die zu einem Grabgesang auf die alten Massenmedien anheben, das «Staatsfunk»-Angebot als veraltet abschreiben und die Verallgemeinerung des «Individualisierungs»-Trends vorauswissen. Das hiesse: Kanalisierung durch unsere Vorlieben, Parzellierung des lebensweltlichen Wissens, modisch geredet: Fokussierung! Wahrnehmung, ganz wie sie euch gefällt!
Gefahr der selbstgewählten Verdummung
Dem «Common sense» fehlt wieder mal die Lobby. Die neue Weltreligion der Digitalität herrrscht. Sie verlockt zur «Ökonomisierung» der Realitätsbezüge, zur Reduktion auf Spartenkundigkeit. Doch kann uns die Technik, nur weil sie solche Optionen ermöglicht, auch gleich daran hindern, in solcher Spezialisierung die Gefahr einer selbstgewählten Verdummung zu erkennen? Wir sollten uns die Möglichkeit zum täglichen Entdecken nicht vorsortierter Weltanteile so lange wie möglich bewahren, sagen wir: für die nächsten 20 Jahre. Danach wird man sehen.
Fallen die herkömmlichen Massenmedien – SRG mitsamt den Zeitungen diesseits des Internet-Journalismus – auf ihr Existenzminimum oder gar darunter, haben wir nichts anderes verdient als das Verschwinden der bedachtsamen Tageslektüre und eines am Allgemeinen orientierten Hörens und Sehens. Wir würden dann einige Franken an Abgaben und Abonnements sparen können, dafür an Urteils- und Unterscheidungskraft einbüssen … und uns über den Schwund der politischen Substanz wundern. Mit den Spartenschlauen ist kein Staat zu machen.
Unsere direkte Demokratie wird kaum je per Verfassungsartikel abgeschafft. Wohl aber schleichend. Mir jedenfalls ist kein klarer Kopf bekannt, der sich die demokratische Staatsform unabhängig von einem vitalen Mediensystem denken könnte. Und für mich gehört das duale System zum vitalen. Am 4. März entscheiden wir über nichts weniger als über den Fortbestand der einzigen landesweit operierenden Universalmedien, deren Chance es ist, die Schweiz fasslich zu machen.
*Jürg Tobler, Jahrgang 1939, war von 1963 bis 1998 hauptberuflich Journalist, wovon 27 Jahre in leitender Funktion: Chefredaktor der «Luzerner Neusten Nachrichten», danach Chefredaktor bzw. Herausgeber des «St. Galler Tagblattes» und seiner Regionalausgaben, zuvor Inlandchef des Fernsehens DRS, von 1973 bis 1989 regelmässiger TV-Diskussionsleiter. Der in Frauenfeld aufgewachsene Tobler, der dort – im Nebenbüro von Oskar Reck (Thurgauer Zeitung) – auch das ABC des politischen Journalismus erlernte und kurzzeitig im thurgauischen Grossen Rat sass, lebt heute in der Zentralschweiz und zeitweilig in Südfrankreich.