Vor genau drei Monaten erzielte der ukrainische Polit-Neuling und Schauspieler Wolodimir Selenski einen spektakulären Wahlerfolg. Mit 73,2 Prozent war er zum neuen Staatspräsidenten gewählt worden.
Da er im Parlament über keine Machtbasis verfügte, konnte er seine Versprechen und Vorhaben nicht einmal ansatzweise durchsetzen. Bei den heute stattgefundenen Wahlen hoffte er, die alte, ihm feindlich gesinnte Elite aus dem Parlament vertreiben zu können.
Dazu hatte er eine eigene Partei gegründet, die „Diener des Volkes“ (Sluha narodu). Selenskis Kandidaten und Kandidatinnen sind „jung, frisch und unverbraucht“. Die meisten sind unbekannt und politisch unerfahren. Sie sollen für einen wirklichen Neuanfang stehen. Diese neue Partei hat nun – aus dem Stand heraus – die vorgezogenen Parlamentswahlen klar gewonnen. „Das ist ein gutes Ergebnis“, sagte Selenski in einem ersten Kommentar, „73 Prozent wären aber besser“.
Koalitionspartner gesucht
Jüngste Meinungsumfragen hatten Selenskis Partei bis zu 50 Prozent der Stimmen prophezeit. Da er nun aber die absolute Mehrheit verfehlen dürfte, ist er auf einen Koalitionspartner angewiesen. Denkbar ist eine Allianz mit der Partei „Stimme“ (Holos) des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk. Dieser übersprang offenbar die notwendige Fünfprozent-Hürde und schaffte damit den Einzug ist Parlament.
Würde eine Koalition zwischen Selenski und Swjatoslaw Wakartschuk noch immer nicht für die absolute Mehrheit reichen, müsste Julia Tymoschenkos „Vaterland“-Partei als zusätzliche Stimmenlieferantin angefragt werden. Würde Selenski allerdings die altgediente und in weiten Kreisen als politisch verbraucht geltende Julia Tymoschenko ins Boot holen, würde es ihm wohl schwerfallen, von einem Aufbruch und einem Neuanfang zu sprechen.
Ein Wirtschaftsexperte als Regierungschef
Die bisher amtierenden Parlamentarier liessen sich nicht gerne vom stürmischen pro-westlichen Selenski die Leviten lesen und blockierten die meisten seiner Vorhaben. Auch seine russlandkritische Haltung gefällt nicht allen. Aussenminister Pawlo Klimkin lehnte sich wegen Selenskis Russlandpolitik offen gegen ihn auf – bis er sich dann beurlauben liess.
Selenskis Gegner wiesen im Wahlkampf darauf hin, dass einige seiner Kandidaten keineswegs unbefleckt sind und Kontakte zu Oligarchen pflegen. Die Selenski-Kritiker fragen sich auch, ob ein Parlament, in dem Polit-Neulinge den Ton angeben, eine schlagkräftige Politik führen kann.
Der 41-jährige Selenski kündigte inzwischen an, er wolle den Posten des Regierungschefs mit einem Wirtschaftsexperten besetzen.
Tiefe Wahlbeteiligung
36 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer waren wahlberechtigt. 65 Parteien traten an. Das Parlament zählt 424 Sitze. Mit definitiven Ergebnissen ist am Montagvormittag zu rechen. Die Wahlbeteiligung lag bei tiefen 50 Prozent. Das liegt offenbar vor allem daran, dass der Urnengang während den Sommerferien stattfand.
Laut den ersten sehr provisorischen Prognosen
- kommen Selenskis „Diener des Volkes“ auf 44,2 Prozent der Stimmen.
- An zweiter Stelle liegt die pro-russische „Oppositionsplattform – Für das Leben“ mit 11,4 Prozent. Spitzenkandidat ist Jurij Bojko. Starker Mann in dieser Bewegung ist der Oligarch und langjährige Politiker Wiktor Medwedtsch.
- An dritter Stelle, mit etwa 8,8 Prozent, liegt die Partei „Europäische Solidarität“ des im April abgewählten Präsidenten Petro Poroschenko.
- Julia Tymoschenkos „Vaterland“-Partei käme auf 7,4 Prozent.
- Die Partei „Stimme“ (Holos) des Rocksängers Swjatoslaw Wakartschuk würde ebenfalls 6,5 Prozent erzielen.
(J21)