24 Jahre lang war er nie unterbrochen worden. Vier Tage später, am Weihnachtstag, stirbt Nicolae Ceausescu im Kugelhagel eines Erschiessungskommandos – zusammen mit seiner Frau. Der 21. Dezember 1989, der Beginn des Aufstandes, ist einer der emotionalsten rumänischen Gedenktage.
Er sieht aus wie ein Dandy, ein Frauenheld. Und das ist er. Seine Mutter ist Spanierin, das sieht man ihm an. Er ist 43 Jahre alt, Professor für Hydrotechnik. Er spricht sechs Sprachen. Bekleidet mit einem roten Pullover verlässt er an diesem Mittag das Polytechnikum im Zentrum von Bukarest. Die Welt wird von ihm hören.
Ein nie geahntes historisches Spektakel
Es ist 11.45 Uhr. Unweit des Polytechnikums drängen sich Zehntausende Rumänen vor dem Zentralkomitee der kommunistischen Partei. Auf dem Balkon erscheint – mit Pelzmütze - das „Genie der Karpaten“, „unser irdischer Gott“, „der Erlöser der Welt“, wie er sich nennen liess. Neben Ceausescu stehen seine Frau Elena und mehrere Parteifunktionäre.
Das Fernsehen ist live dabei und überträgt die Bilder auch ins Ausland. Die Welt wird Zeuge eines nie geahnten historischen Spektakels. Der Mann mit dem roten Pullover, Petre Roman, stösst an diesem Mittag auf eine Gruppe von Arbeitern und Studenten. Sie haben sich in einer Nebenstrasse versammelt. Ist das der Anfang vom Ende der letzten europäischen Willkürherrschaft?
Tumulte nach der Verschleppung eines Pfarrers
Auf dem Balkon des Zentralkomitees verurteilen jetzt die Parteifunktionäre die jüngsten Tumulte in der westrumänischen Stadt Timisoara. Alle warten auf den Auftritt von Ceausescu.
In Timisoara war dem lutherianischen Pfarrer Laszlo Toekes verboten worden, weiter zu predigen. Toekes war ein Dissident und griff in seinen Predigten das Ceausescu-Regime immer wieder an. Als Ceausescus Sicherheitsleute Toekes verschleppen wollten, brachen Tumulte aus. Schüsse fielen, Dutzende Menschen starben. Die Revolte breitete sich aus.
Da stehen sie nun, vielleicht Hunderttausende
Hilfe von Moskau kann Ceausescu diesmal nicht mehr erwarten. Die Breschnew-Doktrin besagte, dass bei Revolten den Bruderstaaten geholfen werde. Doch Breschnew war tot, und Gorbatschow hält nichts von seiner Doktrin. Ceausescu glaubt, die Aufstände mit eigenen Kräften niederknüppeln zu können. Um seinem Volk und der Welt zu zeigen, wie geliebt er ist, lässt er am 21. Dezember eine riesige Unterstützungs-Demonstration organisieren.
Da stehen sie nun vor ihm, zehntausende, vielleicht hunderttausende von Rumänen. Doch es kommt anders, als es sich Ceausescu vorgestellt hat.
Feudalherrschaft im Lande Draculas
Seine Untertanen kommen im Zorn, denn es geht ihnen nicht gut. Das Brot ist rationalisiert. Vor den leeren Lebensmittelläden bilden sich lange Schlangen. Immer wieder fällt der Strom aus: die Bevölkerung friert. Die Industrie kostet mehr als sie einträgt. Die Schulden wachsen. In dieser Zeit lässt Ceausescu den (nach dem Pentagon) zweitgrössten Palast der Welt für sich bauen: 350‘000 Quadratmeter überall Marmor.
Ceausescu betreibt nach dem Vorbild des nordkoreanischen Diktators Kim Il Sung einen penetranten Personenkult. Er und seine Frau werden als Retter des Volkes präsentiert. In Wirklichkeit haben die Ceausescus das Land in den wirtschaftlichen Ruin geritten. Sie geben sich als „kommunistische Erlöser“ aus, doch mit Kommunismus hat ihre Gewaltherrschaft längst nichts mehr zu tun. Es handelt sich nur noch um eine brutale Familien-Diktatur: Feudalherrscht im Lande Draculas.
Er stockt, weiss nicht mehr weiter
Noch immer reden auf dem Balkon des Zentralkomitees die Parteifunktionäre. Timisoara sei vom kapitalistischen Ausland gesteuert, sagen sie. In den Nebenstrassen strömen immer mehr Leute zusammen. Jetzt ist es 12.30 Uhr. Ceausescu schreitet zum Mikrofon. Er will eine kurze Rede halten. Nach wenigen Worten ertönen Pfiffe, feindliche Zwischenrufe. Ceausescu stockt, weiss nicht weiter. Neue Pfiffe. „Halte den Mund“ ruft jemand laut. Ceausescu blickt erschrocken nach rechts und sieht wie in einer Nebenstrasse Tumulte ausbrechen.
Auf der ersten Barrikade steht Petre Roman, der Mann im roten Pullover. Er feuert die Demonstranten an, Sprechchöre ertönen. Überall, rund um den Platz werden jetzt Barrikaden aufgebaut. Zehntausende von Rumänen sind gegen eines der unmenschlichsten Regimes aufgestanden. „Ceausescu, weg mit dir, halte die Klappe.“
"Weg mit dir, halt die Klappe"
Auf dem Balkon ruft Elena Ceausescu: „Vine Secu“ – die Securitate kommt. Doch der brutale Sicherheitsdienst kommt nicht sofort. So hatten sich die Ceausescus diese „Freundschaftskundgebung“ nicht vorgestellt. Und alles wird live in die Welt hinaus übertragen.
Noch einmal reisst sich Ceausescu zusammen. Jetzt verspricht er plötzlich eine zehnprozentige Lohnerhöhung für alle, mehr Kindergeld, höhere Pensionen. Doch es ist zu spät. Er ruft den Kriegszustand aus und beruft das Politbüro ein. Doch kaum einer hört ihm noch zu.
Am Morgen danach findet man seinen Verteidigungsminister tot im Büro – Selbstmord oder Mord. Auf dem Platz vor dem Zentralkomitee befinden sich wieder Zehntausende. Sie fordern den Rücktritt Ceausescus. Der stürmt mit einem Megafon auf den Balkon. Seine Worte gehen unter. Ein anderes, stärkeres Megafon übertönt ihn: „Weg mit dir, halt die Klappe“.
War das wirklich ein spontaner Aufstand?
Inzwischen landet auf dem Dach des Zentralkomitees ein Helikopter: bestellt von Victor Stanculescu, einem hohen General und Getreuen der Familie Ceausescu. Doch jetzt hat Stanculescu die Front gewechselt. Er zwingt Ceausescu und seine Frau in den Helikopter: unter dem Vorwand, sie zu retten. Der Helikopter fliegt um 12.08 Uhr, von den Fernsehkameras verfolgt, Richtung Norden.
Schnell wird eine Art neue Regierung auf die Beine gestellt: die Front zur Nationalen Rettung. Hunderte strömen zusammen und wollen Führungsverantwortung übernehmen: Parteimitglieder, Künstler, Militärs, abservierte Politiker, Intellektuelle. Doch schnell formt sich eine Hierarchie. Chef wird Ion Iliescu, ein Altkommunist, der sich mit Ceausescu wegen Kim Il-Sung überworfen hatte. Ministerpräsident wird Petre Roman. Alles geht so schnell, dass später die Frage aufkommt: War das wirklich ein spontaner Volksaufstand oder ein von langer Hand vorbereiteter Staatsstreich? Gerüchte jagten sich. Stand sogar der sowjetische KGB dahinter oder der CIA?
Sicher ist, dass sich bereits Agenten des KGB und der CIA im Lande tummelten. Sicher ist auch, dass Iliescu ein guter Freund von Gorbatschow ist. Und warum hat sich Petre Roman so auffällig an der Barrikade Nummer eins ins Zeug gelegt?
„Erschossen wie ein Hund“
Die rumänische Revolution ist das einzig blutige Kapitel in diesem Jahr 1989 – dem Jahr, in dem die Geschichte Europa auf den Kopf stellte: Keine Mauer mehr, kein eiserner Vorhang, kein von Moskau gelenktes Regime mehr, keine Reiseverbote.
Die Ceausescus werden in einem Pflanzenschutzzentrum im Norden des Landes aufgegriffen. In einer Militärkaserne in der Stadt Targoviste – der Stadt Draculas – wird ihnen am Weihnachtstag der Prozess gemacht. Doch es ist kein Prozess: es ist ein Verfahren ohne Verteidigung, ohne wirkliches Gericht. Die Ceausescus sagen, sie würden dieses Gericht nicht anerkennen. Nach 100 Prozessminuten fällt das Urteil: Tod durch erschiessen.
Um 14.50 Uhr werden sie gefesselt in den Kasernenhof geführt. Unter Tränen ruft Ceausescu: „Tod den Verrätern, die Geschichte rächt uns“. Dann singt er die Internationale. Drei Männer des 64. Fallschirmregiments feuern mit Kalaschnikow-Maschinengewehren dreissig Schuss auf die beiden.
Revolutionär und Tango-Tänzer
Die Bilder der beiden toten Ceausescus gehen um die Welt. Gefilmt werden die unscharfen, verwackelten Einstellungen von einem anonymen Kameramann. Alles muss so schnell gehen, dass er nicht einmal Zeit hat, die Schärfe einzustellen. Das Erschiessungskommando fürchtet die baldige Ankunft der Securitate-Leute, die Ceausescu retten wollen. Deshalb fackelt man nicht lange. Zehn Minuten nach dem Urteilsspruch waren die beiden tot. “Wie ein Hund” seien sie erschossen worden, sagte die Architektin von Ceausescus Marmorpalast, der noch immer nicht fertiggestellt ist. Die Aufständischen rechtfertigen das Schnellverfahren damit, dass nur so weiteres Blutvergiessen verhindert worden sei.
Der Mann mit dem roten Pullover ist 66. Er blieb Ministerpräsident bis 1991. Erfolglos kandidierte er 1996 bei den Staatspräsidentschaftswahlen. Später war er noch ein Jahr lang Aussenminister. Bei den Parlamentswahlen 2008 scheiterte er. 2009 heiratete er die 27 ahre jüngere Sängerin und Tänzerin Silvia Chifiriuc. Er tritt mit ihr öffentlich als Tango-Tänzer auf.