Dieser Zwischenruf richtet sich vor allem an jene ideologisierten Fanfarenbläser, die dauernd davon faseln, „das Volk“ in Amerika habe eine „Revolution“ losgetreten, die demnächst auch in ganz Europa die politischen Verhältnisse auf den Kopf stellen werde. Denn auf welcher Seite steht nun das vielbeschworene „Volk“ in den USA, wenn die Wahlverliererin Hillary Clinton laut jüngstem Auszählungsstand vom Freitag (18. November) 1.4 Millionen Stimmen mehr bekommen hat als der angeblich überwältigende Sieger Donald Trump? – Die Zahlen stammen vom Popular Vote Tracker des Cook Political Report, der sich auf offizielle Quellen beruft.
Seit unserer letzten Meldung zu diesem Thema vom vergangenen Wochenende hat sich Clintons Stimmenvorsprung immerhin verdoppelt. Insgesamt haben sich an der Präsidentenwahl vom 8. November 131 Millionen Stimmbürger beteiligt. Der jetzige Vorsprung Clintons macht rund 1.1 Prozent der abgegebenen Stimmen aus.
Wenn sich etwas halbwegs Handfestes über das amerikanische „Volk“ (respektive die Wähler unter ihnen, und das sind auch nur rund 50 Prozent aller Wahlberechtigten) sagen lässt, dann dies: Dieses Volk ist parteipolitisch ziemlich genau in der Mitte gespalten – von einem „überwältigenden Sieg“ der Trumpisten kann also im Ernst keine Rede sein.
Der Hinweis auf den beträchtlichen Stimmenvorsprung Clintons soll keineswegs bedeuten, dass damit die Wahl Trumps zum legitimen Präsidenten in Frage zu stellen wäre. Trump hat dank seiner in dieser Dimension überraschend hohen Zahl von Siegen in den umkämpften Swing-Staaten eine klare Mehrheit im Electoral College gewonnen. Dieses wird ihn im Dezember mit grösster Sicherheit zum offiziellen Wahlsieger küren.
Dies entspricht den in der ehrwürdigen Verfassung verankerten Spielregeln der amerikanischen Demokratie. Gerade weil die Gründerväter dem mitunter wankelmütigen oder verführbaren direkten Volkswillen misstraut hätten, sei bei der Präsidentenwahl der stärker föderalistisch gewichtete „Filter“ des Electoral College eingebaut worden, schreibt ein Kommentator zu dieser seltsamen Einrichtung.
Ganz so fremdartig muss uns Schweizern dieser Mechanismus ja nicht anmuten. Auch wir kennen die Institution des Ständemehrs bei Volksabstimmungen. Allerdings kann man mit einem Ständemehr allein noch keinen politischen Entscheidungskampf gewinnen – wie das Trump nun gelungen ist.
Werden sich Trump und seine triumphierenden Claqueure daran erinnern, dass der Präsident nur von einer Minderheit der Stimmenden gewählt wurde, wenn sie sich bei nächster Gelegenheit wieder auf „das Volk“ als unantastbare Grösse und Legitimation berufen? Die Chancen sind nicht sehr hoch einzuschätzen. Aber es ist schon ein Fortschritt, wenn möglichst viele gewöhnliche Bürger hinter solche mythischen Begriffe nüchterne Zahlen und skeptische Fragezeichen setzen.