Das wenig freundliche Wetter hat das Publikum am 18. Zurich Film Festival offensichtlich in die Säle gelockt: 137’000 Eintritte konnte man stolz vermelden. Die internationale Bedeutung des Festivals am Sommerende bleibe dahingestellt – für das hiesige Publikum ist es jedenfalls eine willkommene Gelegenheit, nebst Raritäten auch die Neuheiten des Herbsts und Winters schon im Voraus zu besichtigen.
Was könnte einem so auffallen, wenn man Filme wie «R. M. N.» und «The Almond and the Seahorse», die am Zurich Film Festival ihre Schweizer Premiere hatten, unmittelbar hintereinander sieht? In beiden muss die Hauptdarstellerin bzw. eine der Hauptdarstellerinnen Cello spielen, obwohl sie es sichtlich nicht kann. Kamera und Schnitt müssen sich also etwas einfallen lassen. Dies im Unterschied wiederum zu «The Banshees of Inisherin» von Martin McDonagh (dem Regisseur unter anderem von «Three Billboards Outside Ebbing, Missouri»), soeben in Venedig für das beste Drehbuch und den besten Schauspieler (Colin Farrell) ausgezeichnet.
In einem Irland wie frisch aus J. M. Synges «A Playboy of the Western World» traktiert der grossartige Brendan Gleeson tatsächlich die Fiedel, und zwar auch dann noch, als er sich schon die Hälfte seiner Finger abgeschnitten hat – genau so, wie er es seinem jüngeren Freund (Farrell) warnend angekündigt hat, wenn der ihn weiter mit seiner Anhänglichkeit langweile. (Die beiden waren bereits 2008 zusammen vor der Kamera in McDonaghs sehr viel gewalttätigerem «In Bruges».)
Kannibalenfilm aus dem «Flyover Country»
Da ist dann nicht mehr der Schnitt gefordert, sondern, nebst digitalen Diensten, «prosthetics», die Prothesenkunst. Noch blutiger geht es in «Bones and All» zu und her, in dem Luca Guadagnino die Genres des Vampir- und des Zombiefilms weiterdenkt und zusammenführt zum Kannibalenfilm. Der Italiener, in Zürich mit dem «A Tribute to» ausgezeichnet, dem höchsten Preis des Festivals, hat in Venedig dafür den Preis für die beste Regie erhalten; ebenfalls ausgezeichnet wurde seine junge Hauptdarstellerin (Taylor Russell) in dieser eigenwilligen und trotz Horrorszenen verhaltenen Liebesgeschichte.
Für den auswärtigen Betrachter freilich dürfte dieses bereits ausgeblutete, ärmliche Herzland Amerikas mit seinen heimatlosen Figuren den Ruf als «Flyover Country» eher bekräftigen.
Der Rumäne Cristian Mungiu ist 2007 berühmt geworden durch sein Meisterwerk «4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage». In «R. M. N.» (rumänisch für MRI) nun entwirft er eine Folge von dichten Schnittbildern durch einen sozialen Körper: denjenigen eines Dorfs in Transsilvanien, wo das Gewerbe fast verzweifelt im Versuch, Fördergelder durch exakt jene EU zu erhalten, die ihm die arbeitsfähige Bevölkerung absaugt. Dass dann eben Leute aus Sri Lanka verpflichtet werden müssen, bringt die Volksseele zum Kochen, wobei plumpster Rassismus neben nachvollziehbarer Besorgnis vor dem Fremden steht.
Da braucht es nicht mehr viel, und schon sieht sich auch noch das jahrhundertealte Nebeneinander von Rumänen und Ungarn in Frage gestellt.
Medizinisches, Tierisches
Auch der in Liverpool gedrehte «The Almond and the Seahorse» des Walisers Celyn Jones und des Kaliforniers Tom Stern, der in Zürich seine Uraufführung feiern durfte, ist medizinisch indiziert – wobei zunächst auf anregend irritierende Weise diffus bleibt, welches denn nun die Kranken und welches die Gesunden sind. Der Titel bezieht sich auf Mandelkern und Hippocampus, Hirnareale, bei denen ein Trauma dazu führen kann, dass jahrelang Vertrautes plötzlich fremd wird. Das wird von den Hauptfiguren (als Paare Charlotte Gainsbourg und Trine Dyrholm, Rebel Wilson und Celyn Jones) einleuchtend vermittelt – unklar will bleiben, ob das Klinikpersonal absichtlich derart abstossend gezeichnet ist.
Im Rollstuhl sitzt auch der Student Nate, nachdem ihm von einem tollkühnen Sprung von einem Felsen bakteriell verseuchtes Seewasser durch die Nase bis hoch ins Hirn geschossen ist, was erst eine Meningitis und dann eine Tetraplegie zur Folge hatte. Interessant wird «Gigi & Nate» jedoch, als das Kapuzineräffchen Gigi die Szenerie betritt: als sogenanntes «service animal», das, lang bevor es aktive Hilfestellungen zu leisten beginnt, Nates fast schon erloschene Lebensgeister weckt. Reizvoll nun, wie der Film den Stufen der Annäherung zwischen Patient und tierischem Kumpan ausgiebig Zeit einräumt, da wird nichts forciert. Umso vergnüglicher dann die erfolgreiche Kooperation, etwa wenn der kleine Affe auf Kommando die Seite im Buch umblättert.
Doch der in Belfast geborene Nick Hamm will mit seiner im amerikanischen Süden realisierten Produktion mehr als ein Feelgood-Movie. Einen überraschenden politischen Dreh erhält der Film, als Bilder der beiden in einem Supermarkt beim Einkaufen und dann bei einer Party «viral» gehen – was die Tierschützer auf den Plan ruft. Und die sind Hardcore. Die Fanatiker bringen die Sache vor Gericht, und wenn Nate knapp unterliegen wird, dann vielleicht auch deswegen, weil sein unbeholfen-inständiges Plädoyer riskiert, Gigis «artfremde» Gefangenhaltung bewusst zu machen. Das Happyend bringt erst der Umzug von Tennessee nach North Carolina, wo Affen als «service animals» offenbar weiterhin erlaubt sind.
Einzigartig
Ein einzigartiger Film über Tiere und Menschen ist «All That Breathes» von Shaunak Sen, bereits an den Festivals von Sundance und Cannes als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet; die Zürcher Jury hatte kein Auge dafür. Das unglaubliche Nebeneinander von Mensch und Tier im urbanen Indien: Wo sich Frédéric Gonseth in «La cité animale» (2000) als Fremder vor allem von all den Affen, Kühen und Dromedaren bis hin zum Elefanten auf Jaipurs Strassen fasziniert zeigte, setzt Sen in der Vorhölle Delhis weiter unten an und zielt höher hinaus. Und dies im doppelten Sinn. Schemenhaft die Ratten, konkret die Ameisen, die Raupe, der Hundertfüsser, die Schnecke, das Schildkrötchen – alle weben sie in subtil mehrschichtigen Bildern an einem Teppich des Lebendigen, der bis in den smogverhängten düsteren Himmel reicht, wo die Vögel, vor allem Schwarzmilane, zu Aberhunderten über den gigantischen Abfallhalden kreisen – und aus dem sie herunterfallen: krank, verletzt, tot.
Und so gelangen sie denn zu diesem Brüderpaar, das in seinem Kellerraum unter misslichsten Umständen im Verlauf der letzten zehn Jahre gegen 25’000 Vögel gerettet hat. Unten geschieht die Verarztung und Pflege, oben, auf dem Dach, werden die Tiere wieder in die Lüfte entlassen. Bezeichnenderweise sind die Brüder, unterstützt von Familienangehörigen und einem naiven jungen Volontär, Mohammedaner. Während draussen, nur wenige Strassen weiter, der Hindumob zur Jagd auf sie bläst, sprechen sie in unprätentiösen Worten von der Einheit und dem Recht auf Leben all dessen, was «atmet».
Historisch? Thriller?
Unerträglich (und unerträglich lang) ist «The Woman King» von Gina Prince-Bythewood, einer schwarzen Kalifornierin, der auf lachhafte Weise ein Dahomey von 1823 evozieren will, in dem eine Truppe von Kriegerinnen erfolgreich die Kungelei der Männerherrschaft im Königreich mit europäischen Sklavenhändlern beendet. Das erinnert in seiner Simpelhaftigkeit und Verklemmtheit mehr an das ganze alte «kolonialistische» Hollywood von Tarzan bis Rider Haggard, als den Macherinnen lieb sein kann.
Etwa im absurden Englisch, das da in einer Art Pidgin von diesen Afrikanerinnen gesprochen wird – die noch in den Frauengemächern des Palasts nur züchtig hochgeschlossen in den Pool steigen. Dass die grosse Viola Davis die Schwarte nicht nur in der Titelrolle, sondern auch als Produzentin mitträgt, macht die Sache nicht besser.
Wer bloss ist auf die Idee gekommen, «A Forgotten Man» des Genfers Laurent Nègre (im Hauptberuf Kulturchef bei RTS) als «Thriller» zu bezeichnen? Und weshalb dieser durch nichts gestützte englische Titel? Für einen erhofften weltweiten Verleih? Weshalb aber überhaupt diese von Thomas Hürlimanns Stück «Der Gesandte» (1991) inspirierte Geschichte über den Schweizer Botschafter Hans Frölicher, der in den Jahren 1938 bis 1945 in Berlin angeblich von oben gewünschte Nähe zum Nazi-Regime praktizierte? Zwygart, wie er hier heisst, tritt wohl nur schon aus Budgetgründen erst nach seiner Rückkehr in die Schweiz auf.
Weshalb interessiert sich der Film nicht wirklich und nicht bloss in Andeutungen für die Machenschaften, mit denen der politische Betrieb einen plötzlich zur Hypothek Gewordenen loswerden will? Dem dafür ständig der hingerichtete Hitler-Attentäter Maurice Bavaud erscheinen muss, zu dessen Rettung er seinerzeit nichts unternommen hat? Am Hauptdarsteller liegt es nicht und auch nicht am schönen Schwarzweiss der Bilder, wenn einem die ganze Geschichte blass und unerheblich erscheint: Michael Neuenschwander, kontrolliert und auch im Fahrigen präzis, schaut man gern zu.
Witziges und Bedenkenswertes aus Dänemark
Der Dicke Däne: Thomas Vinterbergs «Jagten» (2012) hat ihn ausführlich präsentiert. Christian Lollike legt in «Kagefabrikken» (Die Biskuitfabrik), seinem ersten Kinospielfilm, nach und setzt noch eins drauf: die Dicke Dänin, und zwar nackt, und das nicht nur ein bisschen. Der Witz besteht zunächst darin, wie der unförmig-unfähige Erbe einer serbelnden Biskuitfabrik von Tochter und Schwiegersohn, beide smarte Business-Management-School-Typen, aufs Altenteil abgeschoben werden soll. Er verändert seine Stossrichtung hin zur Burleske, als der Vater in der Firma auf eine irakische Putzfrau trifft, die ihn auf völlig neue Ideen bringt. Denn der Betrieb ist vorerst keineswegs gewillt, eine schleichende Islamisierung der Produktion mitzumachen – die Stunde der Dicken Däninnen hat geschlagen.
Es braucht wohl die in Europa sonst nur noch von den Engländern gehandhabte, spezifisch dänische Kunst der Respektlosigkeit und Furchtlosigkeit, um den Islam derart durch den Kakao zu ziehen wie hier – allerdings ebenso (eingedenk der Mohammed-Karikaturen?) die umwerfende grosse Wende: wenn der zu neuem Unternehmensdrang gelangte Zuckerbäcker plötzlich im Kaftan auftritt, zum Islam konvertiert und, die Schraube dreht sich munter weiter, die Irakerin heiratet. Nicht ohne die bisherige treuliebende Gattin im Ehebett zu belassen. Die neuen Absatzmärkte sind gefunden, in der Golfregion, die Firma ist gerettet, die Satire perfekt.
Ernste Töne schlägt hingegen «Ustyrlig» (Unkontrollierbar) von Malou Reymann an, der unter dem Titel «Unruly» ebenfalls im Spielfilmwettbewerb lief. Wie schon in «Kongen av Bastøy» (King of Devil’s Island, 2010), Marius Holsts norwegischem Film über die Jugendstrafanstalt auf der Gefängnisinsel Bastøy im Oslofjord im Jahr 1915, ist auch hier eine geschlossene Institution auf einer Insel Hauptschauplatz der Handlung: die Anstalt für «unangepasste Mädchen» auf der Insel Sprogø im Grossen Belt, die von 1922 bis 1961 bestand (Wikipedia). Von deren endlicher Schliessung handelte Jussi Adler-Olsens Roman «Journal 64», den Christoffer Boe 2018 mit Nikolaj Lie Kaas und Fares Fares verfilmte – auf Deutsch unter dem Titel «Verachtung» vertrieben, ähnlich salbadernd wie bereits die Vorgänger «Erbarmen», «Erlösung», «Erwartung», «Verheissung» usw.
In ihrem im Jahr 1933 anhebenden zweiten Spielfilm als Regisseurin lässt die Schauspielerin Malou Reymann ihren Darstellerinnen auffallend viel Zeit –, die diese denn auch nutzen in einem langsamen, sorgfältig gestalteten und argumentierenden Film, der ohne Drastik à la Adler-Olsen auskommt. So mochten die «volksgesundheitlichen» Erwägungen der Behörden angesichts «gefallener» oder doch gefährdeter Mädchen auch echtem gutem Willen entsprungen sein; dennoch lässt der Film, der seine Heldin nach zwei Dritteln dramaturgisch kühn den Tod finden lässt, keinen Zweifel an der Gewalt, die da subtil und wenn nötig auch offen praktiziert wurde, am bedenklichsten von einer Medizin, deren eugenische Ideale zwingend in möglichst umfassende Sterilisationen münden.
Keine Gefängnis-, sondern eine Ferieninsel ist die Titelheldin in «Fucking Bornholm», allwo zwei befreundete Familien aus dem nahen Polen entspannte Campingferien zu verbringen gedenken. Selbstverständlich kommt alles anders als geplant, aber die erfahrene Fernsehregisseurin Anna Kazejak weiss in ihrem ersten Kinofilm die Muster der auf- und auseinanderbrechenden Familienidylle differenziert – und eben nicht «routiniert» – einzusetzen. Das dänische Element vertritt die hochschwangere Platzaufsicht, die den Osteuropäern das Alkoholverbot in Erinnerung rufen muss. Und das im trinkfesten, sauffreudigen Dänemark.
Mord und Folter in Bratislava und Moskau
Der Dokumentarfilmwettbewerb brachte noch mehr Sehenswertes, wenn auch filmisch bei weitem nicht auf der Höhe von «All That Breathes». Im Fall der Ermordung des slowakischen Journalisten Ján Kuciak im Februar 2018, deren Hintergründe «The Killing of a Journalist» von Matt Sarnecki aufrollt, war ein weiteres Gerichtsverfahren zu Ende der Dreharbeiten noch immer nicht abgeschlossen. Immerhin scheint der über Jahre und gegen massive Widerstände angestrengte Prozess zur Offenlegung mafiöser Strukturen bis in die Spitzen des Staats der Bevölkerung etwas Vertrauen zurückgegeben zu haben. Dem Aussenstehenden will sich vieles nur teilweise erschliessen, was keineswegs gegen den Film spricht.
Ähnliches gilt in vielleicht noch grösserem Mass für die Zustände, die «The New Greatness Case» von Anna Schischowa an einem Beispiel aus Moskau verhandelt. Hier wird an einem vergleichsweise kleinen Fall aus dem Jahr 2018 die verbrecherische Willkürherrschaft des Putin-Regimes anschaulich gemacht, lang bevor es in den Krieg ging. Soll heissen, dass wir etwa einen übel zugerichteten jungen Mann sehen, der stockend in die Kamera das Lob der Obrigkeit verkündet; welch widerlich brutaler Folter er zuvor durch die Geheimdienstleute ausgesetzt war, enthüllen erst die Aussagen der Mutter. Dass dergleichen Geständnisvideos aber überhaupt zugänglich sind, illustriert erst die Selbstherrlichkeit und das Bewusstsein der Straflosigkeit, mit der die Geheimdienste im Putinstaat schalten und walten. Im vorliegenden Fall waren es Geheimdienstleute, die aus ein paar aufmüpfigen Jugendlichen erst eine «Zelle» machten, die dann zu «Geheimtreffen» in einer verwanzten Wohnung und zu Gewaltaktionen «gegen den Staat» animiert wurde. Worauf die Teenager mit jahrzehntelangen Gefängnisstrafen konfrontiert waren. Reinste Realsatire ist die kurze Sequenz mit Bildmaterial aus dem Kreml, in der Putin als Schirmherr einer Menschenrechtstagung (!) auf Intervention eines Teilnehmers den im Film behandelten Vorfällen nachzugehen verspricht.