Dieter Imboden ist wieder mit seiner Frau und seinem Boot „Solveig“ auf Europas Flüssen unterwegs. In seinem zweiten Beitrag dieser Saison berichtet er von seiner langsamen Entdeckung der Elbe.
Google Earth – für die einen die selbstverständliche Verfügbarkeit des Bildes der Erde total, für die andern, vor dem Internet Sozialisierten, ein kaum zu fassendes Wunderwerk mit einem Schuss teuflischen Geheimnisses. Dabei hatten auch wir, die Alten, unser eigenes Google Earth, nur nicht auf dem Laptop, sondern in unserem Kopf. Dort formte sich und wuchs seit frühester Kindheit unser ganz persönliches Bild über die geografische Beschaffenheit der Welt.
Wir erinnern uns kaum, wann und wie wir die ersten Bilder gespeichert haben, die Wohnung, den Spielplatz, das Quartier, das Dorf oder die Stadt. Sie bildeten sich zusammen mit unserem Bewusstsein und waren gleichsam immer schon da. Später erweiterte sich das Bild durch Ausflüge mit den Eltern, Schulreisen und Ferien, aber es blieb bei einer Art von Flickenteppich entlang der Reiserouten, der Bahnlinien oder Strassen. Erst recht kompliziert wurde dieses Bild für diejenigen, welche schon in frühen Jahren mit dem Flugzeug in die Ferien reisten, auf eine griechische Insel oder an einen spanischen Badestrand. So entstanden facettenhafte Vorstellungen von der Beschaffenheit der Erde: Hier ein Küstenstrich, dort ein Bergtal oder eine Stadt und dazwischen viel unbekannte weisse Fläche.
Mit Kacheln ausgekleidete enge Röhre
Seit meiner frühesten Kindheit an war ich neugierig auf das „Dazwischenland“. Ich studierte während Stunden Landkarten um herauszufinden, wie es denn zum Beispiel südlich von Braunwald, das ich von den Skiferien kannte, hinter dem Tödi aussehen würde. So konnte ich mein persönliches Google Earth zumindest mit Namen von Städten und Dörfern, von Bergen und Tälern erweitern. Doch sich mittels einer Karte eine konkrete Vorstellung darüber zu machen, ob das Tal dort hinten weit oder eng sei und die Bergflanken sanft oder steil, brauchte einiges an Vorstellungsvermögen. Wo diese nicht ausreichte, ergänzte die Fantasie mein persönliches Google Earth. Oft realisierte ich erst Jahrzehnte später, dass eine bestimmte Gegend in Tat und Wahrheit ganz anders aussieht, als ich mir sie aufgrund einer Landkarte vorgestellt hatte.
Fotobücher stillten meine Neugierde auf andere Art; sie vermittelten konkrete Bilder – wie das echte Google Earth – aber keine geografischen Zusammenhänge. In der unerschöpflichen Bibliothek meiner Grossmutter fand ich als Zehnjähriger in einem alten Buch über die technischen Wunder Deutschlands ein Bild des Hamburger Elbtunnels, eine mit Kacheln ausgekleidete enge Röhre, welche seit 1911 das rechte Elbufer mit dem Hafen Steinwerder verbindet. Ich sehe den Tunnel deutlich vor mir: In der Mitte eine einspurige Fahrbahn, links und rechts je ein schmales Trottoir. Und aufregender noch: Während die Fussgänger auf beiden Seiten in einem Treppenschacht zum Tunnel gelangen, werden die Fahrzeuge – so die Bildlegende – in einem Förderkorb nach unten transportiert. Diese Fotografie war meine erste Begegnung mit der Elbe, eine sehr einprägsame, wenn auch nur indirekte, denn von der Elbe selbst gab es in jenem Buch kein Bild.
Ich traf eine alte Bekannte
Fast zehn Jahre später, nach meinem Schulabschluss, fand meine zweite Elb-Begegnung statt: Ich besuchte damals Hamburg und staunte über die Meerschiffe mitten in der Stadt. Aber noch vor der obligaten Hafenrundfahrt stieg ich hinab in den Elbtunnel und fand, er würde meinem gespeicherten Bild sehr gut entsprechen. Mehr interessierte mich offenbar nicht. Vergeblich hätte man mich damals nach weiteren Elbstädten oder gar nach der Quelle der Elbe gefragt. Die Elbe blieb für mich ein breiter Strom, unter dem ein Tunnel gegraben worden war. Der Rest der Elbe lag ohnehin hinter dem Eisernen Vorgang und existierte in der Zeit des Kalten Krieges für den Schweizer nicht.
In den Jahren nach dem Berliner Mauerfall reiste ich aus beruflichen Gründen mehrmals nach Dresden, um die dortige Technischen Universität bei der Reorganisation des Bereiches Wasserforschung zu unterstützen. Und siehe da: Ich traf eine alte Bekannte wieder, die Elbe, welche – so ganz anders als in Hamburg – als relativ schmaler Fluss in einer engen Kurve zwischen den Brühl’schen Elbterrassen und der Neustadt hindurchfliesst. Zusammen mit meiner Frau fuhr ich an einem strahlenden Sommertag mit einem der legendären Raddampfer elbaufwärts ins Sandsteingebirge der sächsischen Schweiz und hörte die Schiffersleute über den schwierigen Charakter ihres Flusses erzählen. Während längerer Trockenperioden schrumpfe die Elbe zu einem kläglichen Rinnsal, so dass nicht einmal die Dampfschiffe mit ihrem speziell kleinen Tiefgang auf ihrer normalen Route verkehren könnten. Umgekehrt sei die Elbe für ihre enormen Hochwässer berüchtigt, während denen der Wasserstand gegenüber dem Normalzustand um acht oder mehr Meter ansteigen könne. – Wir erinnern uns: Im Jahre 2002 überflutete ein Hochwasser das Untergeschoss der eben wieder aufgebauten Semper Oper.
Die Moldau müsste Elbe heissen
Nach vielen Jahrzehnten von Halbwissen wurde mir endlich klar, dass es nun höchste Zeit sei, die Elbe aus meinen kindlichen Tunnelblick zu entlassen und mehr über diesen vielseitigen Fluss zu erfahren. Also etwa so:
Die Elbe (tschechisch Labe, lateinisch Albis) entspringt im tschechischen Riesengebirge und mündet nach 1094 Kilometer bei Cuxhaven in die Nordsee. Grössere Städte an ihrem Lauf sind Dresden, Magdeburg und Hamburg. Ihr Einzugsgebiet beträgt rund 148'000 Quadratkilometer, ihr mittlerer Abfluss an der Mündung ins Meer 870 Kubikmeter pro Sekunde.
Ein Vergleich dieser Zahlen mit dem westeuropäischen „Standard-Fluss“, dem Rhein, ist hilfreich: Der Rhein hat eine Länge von 1233 Kilometer, ein Einzugsgebiet von 185'000 Quadratkilometer und einen mittleren Abfluss von 2'300 Kubikmeter pro Sekunde. – Die Elbe müsste somit, was die Länge anbetrifft, den Vergleich mit dem Rhein nicht scheuen, umso mehr als dass sie eigentlich „Opfer“ einer historischen Inkonsistenz ist. Normalerweise behält bei jeder Verzweigung von zwei Gewässern der längere Zweig den Namen des Hauptflusses, während der Nebenfluss einen andern Namen erhält. Nicht so bei der Elbe. Tatsächlich ist die Moldau, welche beim tschechischen Mělník in die Elbe mündet, um rund 150 Kilometer länger als die restliche Elbe. Korrekterweise müsste man also die Moldau in Elbe umbenennen und der heutigen „Rumpf-Elbe“ einen neuen Namen geben. So betrachtet wäre die korrigierte Elbe, das heutige Elbe-Moldau-System, insgesamt 1245 Kilometer lang, also einige Kilometer länger als der Rhein.
Über 600 Kilometer keine Staustufen
Ich denke allerdings nicht, dass die Tschechen mit der Umbenennung ihres nationalen Flusses glücklich wären, ganz abgesehen davon, dass mit dem Wegfall des Namens „Moldau“ der gleichnamigen sinfonischen Dichtung von Bedřich Smetana sozusagen das Wasser unter den Füssen weggezogen würde.
Also lassen wir die Elbe, wie sie ist, und werfen wir noch einen kurzen Blick auf ihren deutschen Teil: Dort ist sie nämlich ein ziemlich flaches Gewässer, und gerade das macht sie so gefährlich. Zwischen der deutsch-tschechischen Grenze und Geesthacht (rund 30 km östlich von Hamburg) fliesst die Elbe über fast 600 Kilometer frei, d.h. es gibt keine Staustufen. Muss die Elbe bei Hochwasser mehr Wasser schlucken, gelingt es ihr kaum durch eine Erhöhung der Fliessgeschwindigkeit, sondern in erster Linie durch eine Vergrösserung ihres Fliessquerschnitts. Ihr Niveau steigt massiv, und der Fluss breitet sich aus.
Umgekehrt laufen nicht gestaute Flüsse bei Trockenheit buchstäblich leer und sind dann für grössere Schiffe, ja manchmal sogar für kleine Boote, unpassierbar.
Gefahr Sandbank
Genug der Theorie; man kann nicht schwimmen lernen, ohne sich ins Wasser zu begeben! Zur ultimative Annäherung an die Elbe gibt es für den Hobby-Kapitän nur eines...
Es ist 9 Uhr früh. Die Solveig und ihre Besatzung haben an der unteren Havel übernachtet. In der Schleuse Havelberg überwindet das Schiff den letzten kleinen Niveau-Unterschied hinunter in die Elbe. Am Vorabend habe ich letztmals das deutsche Wasserstrassen-Informationssystem ELWIS konsultiert. Zwischen Havelberg und dem 80 Kilometer elbabwärts liegenden Dömitz betrage die sog. Tauchtiefe mindestens 1.90 Meter, so die Prognosen. Die Fahrt mit der Solveig mit ihrem Tiefgang von 1.35 Meter sollte also problemlos verlaufen, zumindest falls sich der Kapitän strikte an die Fahrrinne hält. Diese wird auf der Elbe (und ähnlich auf der Oder) durch spezielle, an den beiden Ufern aufgestellte Tafeln gekennzeichnet. Eine rot umrandete Tafel zeigt an, dass die Fahrrinne am rechten Ufer, eine grüne, dass sie am linken Ufer verläuft. Seitenwechsel werden durch gelbe Kreuze an beiden Ufern signalisiert, welche eine schräg über den Fluss führende Linie definieren, entlang der das Schiff von einem Ufer zum andern wechseln muss.
Normalerweise liegt die Fahrrinne am äusseren Rand einer Kurve, weil das Flussbett im Innern einer Kurve leicht versandet. Da die Elbe im von uns befahrenen Abschnitt sehr kurvenreich ist, folgen die Seitenwechsel manchmal in sehr kurzen Abständen. Die Flussquerungen sind ohnehin am heikelsten; hält man sich nicht an die imaginären Diagonale, meldet das Echolot (das Instrument, welches kontinuierlich die Wassertiefe unter dem Schiff misst) schnell einmal Tiefen von 1.50 Meter und weniger. Passt man nicht auf, kann man mit dem Schiff über eine Sandbank gleiten oder gar auf ihr stecken bleiben. Dieses seltsame Gefühl, als ob man mit dem Auto über eine Bodenwelle fahren würde, kennen wir von früheren Fahrten auf der Oder; es blieb uns glücklicherweise diesmal erspart.
Böser Ort
Als wir in Havelberg auf die Elbe hinaus fahren, ist das Wetter gut. Schiffsmotor und Strömung des Flusses ergeben eine Reisegeschwindigkeit gegenüber dem Land von ungefähr 16 km/h. flussabwärts voran. Nach ungefähr zwei Stunden fahren wir an Wittenberge vorbei und treffen etwas später, kurz oberhalb von Schnackenburg, auf eine in der Schifffahrt berüchtigte scharfe Rechtskurve mit dem bezeichnenden Namen „Böser Ort“. Unterdessen hat sich der Himmel verfinstert. Ein kräftiger Wind bläst uns ins Gesicht und überzieht die Wasseroberfläche mit Schaumkronen. Auch wenn die Sicht aufs Wasser vom inneren Steuerstand aus weniger gut ist, vertreiben uns Wind, Kälte und Regen vom Aussendeck. Zum Glück haben wir das Manöver des Steuerstandwechsels bestens geübt.
Wegen der kräftigen Strömungswirbel und den Windböen kann das Steuerruder kaum für mehr als ein paar Sekunden ruhig gehalten werden. Ohne die weit sichtbaren Kilometertafeln hätten wir die durch die Hochwasserdämme verdeckte Einfahrt in den Hafen von Dömitz, welche wir nach etwas mehr als fünf Stunden Fahrt erreichen, vielleicht verpasst. Zum Anlegen wechsle ich wieder an den äusseren Steuerstand. Gleichzeitig geht – das scheint ein Naturgesetzt zu sein – ein heftiger Regenschauer nieder. Zum Glück dürfen wir an der Anlegestelle des Fahrgastschiffes festmachen. Motor aus! – Auch wenn wir beide durchnässt sind: Eine wohltuende Ruhe breitet sich aus. Wie vor uns Millionen von Seeleuten ist man einfach glücklich, im sicheren Hafen angekommen zu sein.
Ein Fluss lässt sich nie zähmen
Meine persönliche Annäherung vom Elbtunnel zur richtigen Elbe dauerte mehr als sechs Jahrzehnte. Es wäre anmassend zu sagen, nun sei ich endgültig angekommen und würde die Elbe kennen. Mein ständiger Blick auf das Echolot hat mich gelernt, dass es unter der Wasseroberfläche noch eine weitere Elbe zu entdecken gäbe, diejenige der Unterwassertopografie, der Strömungsrinnen und Sandbänke, welche dem Elbfahrer manchmal abrupte Tiefenwechsel von 10 auf 2 Meter (und umgekehrt) bescheren. Es tut gut zu wissen, dass diese andere „Landschaft“ auch für das wirkliche Google Earth ein Geheimnis bleibt. Auch wenn die Ingenieure meinen, die Topografie des Flusses endlich vermessen zu haben, lehrt sie der Fluss beim nächsten Hochwasser eines Besseren. Ein richtiger Fluss lässt sich nie definitiv zähmen.