Wenn wir davon hören, dass wieder „Illegale“ ertrunken seien oder die Lager in Griechenland oder Italien von Gestrandeten überquellen, setzt reflexartig das Mitgefühl aus. Ein unbewusster Rassismus sorgt dafür, dass uns diese Schicksale nicht allzu nahe kommen. Die Mischung aus ethnischer Fremdheit und kriminellen Machenschaften von Schlepperbanden schaffen Distanz. Gatti aber schildert seine Erlebnisse und die Menschen, mit denen er eine Zeit lang das Schicksal teilt, in einer Weise, die einen nicht mehr loslässt. Die Menschen sprechen zu uns, und das, was sie uns mitteilen, berührt und verändert unser Inneres.
Nach seinen ersten Erlebnissen auf dem Weg durch den Senegal schreibt er: „Ich habe mich immer gefragt, was im Umfeld eines Menschen geschieht, wenn sein Geist sich entschliesst, aufzubrechen. Welches Ereignis, welcher Moment, welches Motiv führen Monate oder Jahre, bevor sich der Körper auf den Weg macht, zu der blitzartigen Einsicht, dass keine Alternative bleibt. Der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt und der Kopf stillschweigend seinen Weg geht. Plötzlich tauchen geheime, ehrgeizige Zielsetzungen auf, bereits getroffene Entscheidungen. Die Wende. Sich aufmachen oder unterliegen. Und zu unterliegen bedeutet nicht notwendigerweise zu sterben. Es gibt Schlimmeres als den Tod. ... Tag für Tag und Nacht für Nacht hören müssen, wie die kleinen Kinder vor Hunger weinen. Während die Reisenden, die Zeitungen, die Reporter der BBC einem Bilder von einer reichen und unerreichbaren Welt vor Augen führen.“
In einem Strom von Armen
Er selber wird krank, bedroht und landet in italienischen Lagern, deren Zustände sorgsam vor dem Blick der Öffentlichkeit verborgen werden. Er reist auf Lastkraftwagen durch die Wüste, auf denen bis zu einhundertfünfzig Menschen zusammen gepfercht werden. Immer wieder gibt es Pannen, die Lebensgefahr bedeuten, und „Kontrollen“ von Polizisten und Soldaten, die nichts anderes als das Ausplündern der letzten Geldmittel sind.
Die Strapazen und der Gestank übersteigen das Vorstellungsvermögen, und in diesem ganzen Unglück wenden sich die Migranten immer wieder an ihn, weil sie sich von ihm Hilfe erhoffen und damit er deren E-Mail-Adresse notiert. Die E-Mail-Adresse ist ein Zeichen ihrer Identität, ihrer Existenz und ihr letzter Halt. Auch Gatti hat das Gefühl, sich auf der Reise aufzulösen: „Während ich heute Nacht mit der Minitaschenlampe zwischen Kinn und Schulter im Schlafsack mein Reisetagebuch auf den neuesten Stand bringe, habe ich das Gefühl, in einem Strom von Armen zu treiben. Nirgends kann ich mehr Halt finden. Nicht ich bin es mehr, der die Reise macht. Es ist die Reise in all ihrer unendlichen Grausamkeit, die mich formt. Obwohl ich nicht weiss, was sie aus mir machen wird, kann ich nicht damit aufhören.“
Und er erlebt Tragödien. So muss er mit ansehen, wie Tausende von Menschen in der Sahara von den Lastkraftwagen geworfen und dem Verdursten preisgegeben werden, um Platz für neue Flüchtlingsmassen zu machen.
Wo Tiere zur Tränke kamen
Aber Gatti liebt Afrika. Immer wieder kommt er auf Heinrich Barth zurück, den grossen Reisenden, der als erster Weisser die Stadt Agadez betreten und dort ein Haus bezogen hat. Der Blick auf die Geschichte macht den Niedergang deutlich, in dem sich Afrika aus klimatischen und politischen Gründen befindet. „Das Haus von Heinrich Barth ist heute ein Museum. In der "Maison du Boulanger" hat Bernardo Bertolucci einige Szenen seines Films „Himmel über der Wüste“ gedreht. Die schöne Giraffe von Dabous auf halber Strecke zwischen Agadez und Arlit wurde vor sechs- oder achttausend Jahren dort in den Felsen geritzt, wo die Tiere zur Tränke kamen. ... Vielleicht konnte man von diesem Felsen aus sogar in das Wasser springen. Heute würde man sich auf dem Sand und im Dorngebüsch den Hals brechen.“
Immer wieder rechnet Gatti nach, wie viel Geld mit den Flüchtlingen verdient wird. Das krasseste Beispiel sind wohl die Überfahrten mit morschen Fischerbooten, die vor allem in der tunesischen Hafenstadt Sfax aufgekauft und dann für Überfahrten vom nahe gelegenen libyschen Zuwara nach Lampedusa benutzt werden:
Exkommunisten errichten Lager
„Es geht um gigantische Gewinne. In Libyen gibt es korrupte Polizisten, die Schutz garantieren. Die Schleuser beschaffen die Passagiere, die Mittelsmänner die Fischkutter, von denen es Dutzende und Aberdutzende gibt. Die vefügbaren Bootsbestände haben sie bereits durchgerechnet, nicht nur die in den Werften von Sfax. Zwischen Sousse und Gabès klettern plötzlich die Schwarzmarktpreise für Boote in die Höhe. Fünfzehntausend Euro für ein Bootswrack, so viel wie nie zuvor. Aber das ist nichts, verglichen mit dem Gewinn. Ein Fischkutter kann 350 Personen aufnehmen. Tausendfünfhundert Euro mal dreihundertfünfzig macht fünfhundertzwanzigtausend Euro. Abzüglich der Kosten für den Kutter und ein paar Liter Diesel und natürlich des Schmiergelds für die korrupten Beamten. Unterm Strich dürften die Ausgaben fünfunddreissigtausend Euro nicht übersteigen, und damit bringt jeder Euro, der in den Markt der neuen Sklaven investiert wird, tausenddreihundert Euro Gewinn. Entspricht einer Nettorendite von tausenddreihundert Prozent. Pro Fahrt.“
Mit der Einführung des Schengen-Raums 1998 hat sich die Politik Europas gegenüber den Bootsflüchtlingen oder anderen illegalen Einwanderern verschärft. In Rom wurden zwei Exkommunisten mit der Errichtung von Lagern beauftragt: ein „Käfig“ in Mailand unter freiem Himmel, mit zwei Reihen Schlafcontainern. Dazu kommen ein Lager in Rom und eines in Trapani. Gatti lebt selbst einige Zeit in einem solchen Lager und beschreibt die Zustände, für die das Wort „menschenunwürdig“ schon nicht mehr ausreicht.
Verhaftung trotz gültiger Visa
Dazu haben Berlusconi, aber auch andere europäische Regierungschefs den libyschen Regime Gaddafis Rechtsstaatlichkeit bescheinigt und Abkommen zum Stopp des Flüchtlingsstroms geschlossen. Damit sind der Willkür gegenüber Flüchtlingen keine Grenzen mehr gesetzt. Diese Willkür trifft auch Reisende, die sich mit gültigen Papieren und Geld aufmachen. Gatti berichtet von zwei Akademikern aus Ghana, die trotz gültiger Pässe und Flugtickets, Visa für Europa und der Einladung einer europäischen Universität die Ausreise aus Libyen verweigert wird. Sie wurden verhaftet und beinahe zu Tode gefoltert. In einem bilateralen Abkommen hat Italien an Libyen 4, 3 Milliarden Euro für die „Flüchtlingskontrolle“ gezahlt.
Dieses Buch hätte den Pulitzer-Preis verdient. Gatti hat nicht nur entsagungsvolle und riskante Recherchen auf sich genommen, sondern auch einen fesselnden Bericht von literarischer Qualität geschrieben. Man fühlt sich an Reportagen von George Orwell und Ryszard Kapuściński erinnert. Gatti vermeidet die Anklage, auch die Klage. Seine Nüchternheit, aber auch seine Nähe zu den Menschen schaffen eine Atmosphäre, der man sich nicht mehr entziehen kann. Und so seltsam es scheinen mag: Das Buch ist voller Spannung.
Fabrizio Gatti, „Bilal“. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuss, Verlag Antje Kunstmann, München 2010