Dem Titel nach handelt es sich bei dem Buch um eine Art Recherche, die Tenenbom „allein unter Flüchtlingen“ unternimmt. Die Ungenauigkeit im Buchtitel mag man ihm nachsehen: Er ist nicht irgendwo unter Flüchtlingen, begleitet sie zum Beispiel nicht wie der italienische Journalist Fabrizio Gatti durch Afrika oder wie jüngst Navid Kermani durch Europa. Tenenbom reist kreuz und quer durch Deutschland, geht hier und dort in ein Flüchtlingsheim oder in ein Lager oder trifft einzelne Flüchtlinge mehr oder weniger zufällig auf der Strasse.
Anderes als das Übliche
Und er spricht mit Deutschen, vorzugsweise mit prominenten Politikern wie Frauke Petry, Gregor Gysi oder Volker Beck. Er besucht den geächteten Bestsellerautor Akif Pirinçci oder den Aktivisten Jürgen Todenhöfer. In den Gesprächen geht es ihm darum, etwas anderes zu hören als das Übliche, was von den Flüchtlingen selbst oder von Prominenten zum Thema gesagt wird.
Das gelingt ihm durchaus. Da Tuvia Tenenbom aufgrund seiner Herkunft ein bisschen Arabisch spricht, findet er in Einzelfällen schnell einen Draht zu den Flüchtlingen. Mit ihrer Hilfe kann er sich zum Beispiel in das Lager im Flughafen Tempelhof einschleichen. Das schafft er auch in anderen Unterkünften. Voller Empörung beschreibt er die miserablen Lebensumstände dort.
Die Last der Vergangenheit
Das soll die berühmte deutsche „Willkommenskultur“ sein? In seinen Augen ist sie nichts als Heuchelei. Nach aussen werde so getan, als sei Deutschland das grosszügigste Land der Welt, aber wenn die Flüchtlinge erst einmal da sind, werden sie irgendwohin verfrachtet und dem Elend des Wartens in zum Teil überfüllten und verdreckten Unterkünften überantwortet.
Auf der anderen Seite hört er von einigen Flüchtlingen, dass sie allein deswegen nach Deutschland gekommen seien, weil sie sich dadurch eine Verbesserung ihrer Lebensumstände erhoffen. Konfrontiert mit der harten Realität nach ihrer Ankunft, sehnen sich viele wieder zurück in ihre Heimatländer.
Warum aber sind die Deutschen so versessen darauf, es mit den Flüchtlingen ganz besonders gut zu meinen? In seinen Gesprächen stösst Tenenbom immer wieder auf die gleiche Antwort: Die Verbrechen des Nationalsozialismus lassen Deutschland keine andere Wahl. Spitz fragt er immer wieder, wo denn die Grosszügigkeit aufhören müsse: bei 3, 5 oder 10 Millionen Flüchtlingen? Manche sind gegen jede Begrenzung, andere weisen diese Frage empört zurück oder hüllen sich in Schweigen.
Akif Pirinçci
Die Wirklichkeit ist nie so, wie sie in den Medien dargestellt wird: Das ist das Ergebnis der Recherche. Besonders eindrücklich schildert er seine Begegnung mit Akif Pirinçci, der auf einer Pegida-Veranstaltung gesagt hatte, dass es heute leider keine Konzentrationslager mehr gebe. Diese Äusserung hat ihn zu einem Aussätzigen gemacht, dessen Buchverträge einschliesslich des Vertriebs augenblicklich annulliert wurden, dessen Haus beschmiert und verschandelt und der selbst täglich auf der Strasse angepöbelt wird. Dass es sich bei dieser Äusserung um ein Zitat aus einem neuen Buch von ihm handelte, das exakt gegen diejenigen gerichtet ist, die heute wieder von Lagern träumen, spielt dabei keine Rolle.
Allerdings ist Akif Pirinçci mit seinem exzessiven Alkoholkonsum und seiner Sucht nach jungen Frauen eine zwielichtige Type. Tenenbom beschreibt dies drastisch. Überhaupt hat er ein Faible dafür, die skurrilen Seiten seiner Gesprächspartner herauszustellen. Schön gelingt ihm das beim nordrhein-westfälischen Innenminister Ralf Jäger oder bei Jürgen Todenhöfer.
Allumfassende Liebe
Was das Buch aber schwer erträglich macht, ist die exzessive Selbstbespiegelung Tuvia Tenenboms. Denn er konzentriert seine Schilderungen nicht auf die Begegnungen, sondern er muss wieder und wieder in aller Breite davon berichten, wo er am liebsten isst, wieviel Vergnügen ihm sein geliehener Opel Astra macht, dass er immer Cola Light trinkt, und dann die Schnitzel, die Schnitzel, die Schnitzel. Zu den meisten Gesprächen gehört ein Foto, auf dem er seine Gesprächspartner an seinen massigen Leib presst. Besonders eigentümlich sieht das mit Frauke Petri aus.
Aber er liebt Frauke Petri. Er liebt auch Götz Kubitschek. Und natürlich Gregor Gysi. Er liebt Kneipen, Abendessen, Schurken, Kirchen, den Mahane-Yehuda-Markt in Jerusalem, in dessen Nähe er eine Wohnung hat. Und natürlich liebt er die Flüchtlinge, mit denen er gesprochen hat. Vor seiner Liebe ist man ebenso wenig sicher wie die Schnitzel vor seinem grenzenlosen Appetit.
Seine durchaus interessanten Gespräche ersäuft er in der Sauce seiner Selbstauskünfte. Handelt das Buch nun von Tenenbom oder von seinen Beobachtungen und Gesprächen? Diese Frage liegt ihm offensichtlich fern.
Keine Regeln
Tenenbom geriert sich wie ein Enfant terrible und quatscht drauflos wie die Schwiegermutter in einem gehässigen Roman. Er hält sich an keine Regel seriöser Berichterstattung. Normalerweise würden Lektoren oder Redakteure solche Texte zurückschicken oder, wenn sie denn zur Bearbeitung verdonnert werden, rigoros zusammenstreichen. Wieso lässt Suhrkamp unter der Leitung von Jonathan Landgrebe und dem Lektorat von Winfried Hörning einen solchen Text durchgehen?
Das ist schon das dritte Buch von Tuvia Tenebom bei Suhrkamp in der Reihe „suhrkamp nova“. Das erste, „Allein unter Deutschen“, erschien 2012, nachdem Rowohlt den Autorenvertrag mit Tenenbom aufgrund rechtlicher Bedenken gekündigt hatte. 2016 erschien „Allein unter Amerikanern“, eine „Entdeckungsreise“ von Florida bis Alaska. Man darf vermuten, dass der Autor dabei reichlich die Steaks, die er wahrscheinlich auch „liebt“, genossen hat.
„Rechtliche Erwägungen“
Das Buch, „Allein unter Deutschen“, wurde von der Kritik ziemlich verrissen. Der Deutschlandfunk nannte es „literarisches Fastfood“, und Siglinde Geisel stellte in der NZZ fest: „Seine Methoden haben mit seriöser Recherche wenig zu tun.“ Sie beschreibt, wie empört manche Gesprächspartner auf die verzerrenden Darstellungen Tenenboms reagiert haben. Und im vorliegenden Buch sind aus einem Gespräch die vermeintlichen Antworten Volker Becks eingeschwärzt. Dies geschah, wie der Verlag auf der Seite mit dem Impressum mitteilt, „aufgrund rechtlicher Erwägungen“.
Tuvia Tenenbom hat, gerade weil er so unmöglich ist, sein Publikum. In einer E-Mail teilte der Verlag gerade die nächsten Termine seiner Lesereise mit. Dass Suhrkamp sich mit einem solchen Autor einen Gefallen tut, muss aber bezweifelt werden.
Tuvia Tenenbom, Allein unter Flüchtlingen. suhrkamp nova, Berlin 2017. 235 Seiten, 13,95 Euro.