Irgendwie hatte man sich an das Volk der Bayern gewöhnt. Die Zeiten, in denen Franz Josef Strauss mit seiner Kanzlerkandidatur den Rest der Republik in höchste Unruhe versetzte, sind schon lange vorbei. In der gegenwärtigen Grossen Koalition erscheinen die Abgesandten aus Bayern und ihr dortiger Chef Horst Seehofer nur noch wie eine Truppe harmloser Poltergeister.
Der Bildband von Michael von Graffenried löst dagegen heftige und unangenehme Gefühle aus. Man sieht viele Menschen, und das Wort „sympathisch“ käme einem dabei kaum in den Sinn. Es sind seltsame Gestalten, die sich zum „Bierfest“ versammeln, und was sie unter Feiern verstehen, erschliesst sich ebenso so wenig wie ihre Art von Humor.
Trübe Geschäftigkeit
Bei manchen Bildern hat man den Eindruck, dass bei den Bayern das Feiern mit einer Art von Trotz verbunden ist. Woher der Trotz kommt und wogegen er sich richtet, erschliesst sich nicht. Statt festlicher Stimmung schlägt einem nur der Eindruck trüber Geschäftigkeit entgegen.
Die Bayern treffen sich, trinken Bier, zeigen sich in Tracht, tanzen sogar mal eine Polka – und das sieht ganz besonders deprimierend aus. Was treiben die im normalen Leben? Was reden sie untereinander?
Michael von Graffenried hat für diesen Bildband eine spezifische Beobachterperspektive gewählt. Er fotografierte mit einer speziellen Panoramakamera, die er sich vor den Bauch bindet und die er unbemerkt auslösen kann. Mit dieser Kamera, die er vor langer Zeit auf einem Flohmarkt in Paris erworben hat, sind schon viele Bilder entstanden, zum Beispiel in Algerien.
Kein freundlicher Akt
Als er mit ihr in Algerien fotografierte, hat er sich immer wieder die Frage gestellt, ob es ethisch erlaubt ist, von Menschen ohne ihr Wissen und ihr Einverständnis Fotos zu machen. Diese Frage trieb ihn so um, dass er extra wieder nach Algerien gereist ist, um den Menschen ihre Bilder „zurückzugeben“. Dazu diente eine Ausstellung in Varanasi, später in Algier, und in einem Dokumentarfilm liess Graffenried die Menschen ausführlich zu Wort kommen.
Man kann sich kaum vorstellen, dass ähnliche Gewissensbisse Michael von Graffenried diesmal umtreiben. Und käme er auf die Idee, diese Bilder in München auszustellen, würde das ganz gewiss nicht wie ein freundlicher Akt der Versöhnung aufgefasst. Aber diese Gefahr besteht ganz sicher nicht.
Wie hinter Glas
Die Menschen erscheinen wie hinter Glas. Wohl selten ist ein Fotograf so nah an Menschen herangegangen, um in seinen Bildern ein Maximum an Distanz zum Ausdruck zu bringen. Das ist geradezu unheimlich. Man sieht Menschen aus nächster Nähe, für die man nicht das mindeste Mass an Sympathie empfinden kann. Sie sind nur ein seltsames Volk.
Und dann diese unheimliche Dramaturgie dieses Bildbandes, der im Übrigen auf jedes erläuternde Wort verzichtet. Das Fest beginnt, die Menschen strömen hinzu, sie sind zum Teil festlich, zum Teil bunt in traditionelle Uniformen und Kleider gehüllt. Überhaupt das Bunte. Man sieht ordinärsten Plüsch, bunte Süsswaren und grelle Tücher, Jacken und Hüte. Die Bilder schreien geradezu.
In zahlreichen Aufnahmen hält Graffenried das Treiben fest, dem jeder Mittelpunkt fehlt. Man sieht die Festzelte, Karussells und Achterbahnen, und hier und da scheint auch so etwas wie eine offizielle Festversammlung stattzufinden. Aber ganz sicher ist man sich nicht. Denn die Menschen sind auf allen Bildern so beziehungslos – als träfen sich lauter Solitäre, die gar nicht wissen, was Geselligkeit ist.
Das ist schon deprimierend genug, aber gegen Ende des Bandes dreht sich das ohnehin amorphe Geschehen ins Unerträgliche. Da gibt es Bierleichen, Schlägereien, verkaterte Paare, Eingreifen von Polizei und privaten Sicherheitskräften – es ist zum Weglaufen.
Mit seinem letzten Bild treibt Graffenried den Sarkasmus auf die Spitze. Nachdem er das ganze Elend übermässigen Bierkonsums gezeigt hat, betritt man mit ihm wieder eine Festhalle, Trachtenmädchen stehen auf den Biertischen und winken mit und ohne Humpen dem Beobachter zu; es herrscht eine Bombenstimmung.
Michael von Graffenried hat einen auch formal sehr ungewöhnlichen Bildband vorgelegt. Seine Panoramaaufnahmen erfordern das Querformat, und alle Aufnahmen füllen die Doppelseiten. Oft schaut die Kamera von unten nach oben; manchmal ist sie fast auf Augenhöhe. Die Bauweise der Kamera und die Art ihrer Handhabung lassen kein akzentuiertes Spiel mit der Schärfe zu.
Überdruss
Meistens wirkt der Hintergrund schärfer als der Vordergrund, auch wenn der inhaltliche Fokus des Bildes eindeutig auf dem Vordergrund liegt. Dadurch entsteht ein ganz merkwürdiger Effekt. Das ganze Geschehen bekommt etwas Surreales. Und da die Bilder sich formal ganz ähnlich aneinanderreihen, entsteht ein Eindruck der Monotonie, wobei man die Augen vom Geschehen nicht abwenden kann. Der Betrachter gerät in die Rolle eines realen Besuchers, der rasch Überdruss empfindet, aber es nicht schafft, seine Blicke zu lösen und nach Hause zu gehen.
So ist dieser Bildband auch formal ein gewagtes Experiment. Aber es ist gelungen. Denn der Bildband bringt etwas authentisch zum Ausdruck, was sich alle Jahre wieder in München auf dem Oktoberfest abspielt - vor aller Augen und doch merkwürdig verborgen. Das Volk der Bayern bleibt bis heute in seinem Treiben und mit seinen Trieben voller Rätsel.
Mchael von Graffenried, Bierfest, Steidl Verlag, Göttingen 2014