Joseph Schmidt gehörte zu den vom Nazi-Regime verfolgten jüdischen Flüchtlingen, die noch im Oktober 1942 an der Schweizer Grenze zurückgewiesen wurden. Es gelang ihm jedoch wenig später, illegal über Annemasse in die Schweiz zu gelangen. Damals hatten die Schweizer Behörden längst Kenntnis von der in NS-Deutschland geplanten «Endlösung der Judenfrage» und den Vernichtungslagern mit Gaskammern und Krematorien. Dennoch verschlossen sie unbarmherzig die Grenzen.
Vom Star in der Tonhalle zum Flüchtling
Der einst weltweit gefeierte Kammersänger Joseph Schmidt schlug sich nach Genf durch und bestieg einen Zug nach Zürich, wo er auf Hilfe hoffen durfte. Zwei Jahre zuvor hatte ihm in der Zürcher Tonhalle das Publikum zu Füssen gelegen und er hatte in einem der teuersten Hotels logiert. Jetzt begab er sich zu einer bescheidenen Pension an der Löwenstrasse. Ein herbeigerufener Arzt verordnete dem von der Flucht aus Frankreich Erschöpften strikte Bettruhe.
Alle Details der Geschichte vom traurigen Ende des Ausnahme-Tenors in der Schweiz sind bekannt, weil Alfred Fassbind sie für seine umfassende Schmidt-Biografie sorgfältig recherchierte, bei Zeitgenossen und im Bundesarchiv («Sein Lied ging um die Welt»). Das Buch ist spannend geschrieben; die Kapitel über Joseph Schmidts verzweifelte Flucht aus dem besetzten Südfrankreich in die Schweiz und sein unnötig frühes Sterben sind sachlich, aber gerade deshalb aufwühlend.
Unnötig interniert
Als sich Schmidt ordnungsgemäss bei der Polizei meldete, konnte er die schriftliche Garantie eines angesehenen jüdischen Zürcher Zigarettenfabrikanten vorlegen, der für alle Kosten des Sängers aufkommen wollte. Und der bekannte Theateragent Kantorowicz bot eine sofortige Anstellung des Tenors im Corso-Theater an.
Doch die Zürcher Fremdenpolizei kannte keine Gnade, obwohl oder gerade weil Schmidt eine Berühmtheit war und dem Staat nicht zur Last gefallen wäre. Diese Frage beschäftigt Alfred Fassbind. Es bestand, sagt er, kein Grund, Schmidt hartherzig zu behandeln. Doch der Sänger erhielt keine Aufenthaltsgenehmigung und wurde, anders als viele gleichzeitig angekommene Verfolgte, im Lager Girenbad bei Hinwil interniert.
Vorher versetzte er bei einem Pfandleiher seinen Siegelring, ein Geschenk seiner Mutter, und seine edle goldene Taschenuhr an einer Kette, die er als beliebtester Sänger der im Radio übertragenen Konzerte erhalten hatte. So hatte er, der früher im Überfluss leben konnte, wenigstens hundert Schweizerfranken in der Tasche.
Ungeheiztes Lager – unbarmherzige Spitalärzte
Das Lager Girenbad war eine ehemalige Textilfabrik, in deren ungeheizten Sälen 300 Männer dicht nebeneinander auf Stroh lagen. Das einzige Privileg für den Sänger war ein Schlafplatz in einem kleinen Raum für zwei Personen.
Der Tenor, von zierlicher Gestalt, litt bald an einer Halsentzündung und wurde von den schlecht ausgerüsteten Lagerärzten ins Zürcher Kantonsspital überwiesen. Dort klagte er über Schmerzen in der Brust und bat um eine Untersuchung seines Herzens. Diese Bitte wurde abgelehnt – er sei nur wegen einer Halsentzündung eingewiesen worden.
Inzwischen hatten die beiden damaligen Stars des Zürcher Opernhauses, der Tenor Max Lichtegg und der Bariton Marko Rothmüller, von der Anwesenheit ihres berühmten Kollegen erfahren. Sie bemühten sich, ihm eine Auftritttsgenehmigung für ein bevorstehendes Benefizkonzert zugunsten der Flüchtlinge zu besorgen.
Am Tag der ersten Probe wurde Joseph Schmidt aus dem Spital entlassen. Es ist überliefert, dass ihm der Chefarzt sagte, er solle froh sein, hier sein zu dürfen, denn in seiner Heimat müsste er jetzt Gruben ausheben.
Triumphe in Berlin vor der Machtübernahme
Joseph Schmidts Heimat war Galizien, eines der kulturellen jüdischen Zentren der Donaumonarchie. Später wurde es rumänisch (Schmidt besass einen rumänischen Pass), heute gehört es zur Ukraine. In Czernowitz sang er als Kantor in der Synagoge und feierte später in Berlin Triumphe. Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, wechselte Schmidt nach Wien, wo ihn 1938 nach dem «Anschluss» das gleiche Schicksal ereilte.
Er sang mit grossem Erfolg in der halben Welt, auch drüben in der neuen Welt, und in Filmen wie «Ein Lied geht um die Welt». Nur die Opernbühnen blieben dem Tenor mit der gewaltigen Bandbreite seiner Stimme, der zum Spass sogar Arien für Koloratursoprane sang, versagt, weil er zu klein war.
Schmidt fuhr vom Spital direkt nach Zürich-Enge, wo die Probe stattfinden sollte, doch noch vor der Probe brach er zusammen. Der zu Hilfe gerufene Arzt Josef Wyler aus dem Zürcher Seefeld rief im Lager an und erklärte, Herr Schmidt könne keinesfalls wie befohlen nach Girenbad zurückkehren. Lakonische Antwort laut Fassbinds Recherchen: «Er muss.» Wyler konnte für den transportunfähigen Patienten wenigstens einen Tag Aufschub aushandeln. Zurück im Lager wartete der Sänger auf die verschobene Probe am folgenden Sonntag.
Tod auf Frau Hartmanns Sofa
Ein freundlicher junger Lagerleiter riet Schmidt, dem es nach Aussagen von Mit-Internierten sehr schlecht ging, er solle die Wirtin im Gasthof «Waldegg» in der Nähe des Lagers fragen, ob er sich vor der Fahrt nach Zürich bei ihr aufwärmen dürfe. Die freundliche Frau Hartmann heizte schon früh ihre eigene Wohnstube ein und bereitete heisses Wasser vor, mit dem sich der kranke Sänger waschen und rasieren konnte. Dann legte er sich erschöpft auf das Sofa.
Die Wirtin rief die Lagerärzte herbei, die ihm verabreichten, was sie in ihrer mageren Apotheke vorfanden. Doch alles nützte nichts mehr. Auch der herbeigerufene Dorfarzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Joseph Schmidt starb mit 38 Jahren auf dem Sofa der «Waldegg»-Wirtin an Herzversagen, wie es auf dem Totenschein steht.
Einen Tag später, so schrieb eine Bekannte Schmidts, kam die Aufenthaltsbewilligung, die ihn aus dem Lager befreit hätte. Und einen weiteren Tag später wurde er im jüdischen Friedhof Unterer Friesenberg in Zürich begraben. An der Beerdigung nahmen neun Männer teil: Lichtegg und Rothmüller als Vertreter des Opernhauses, und einige Kollegen aus dem Schauspielhaus. Auf seinem Grabstein stand eine Andeutung seines bekannten Liedes «Ein Stern fällt vom Himmel».
Alfred Fassbind gibt weder der Lagerleitung noch gar der Gemeinde Hinwil eine Schuld am zu frühen Tod des in die Schweiz geflüchteten Tenors. Aber er kann bis heute die Spitalärzte nicht verstehen, die sich weigerten, den Brustschmerzen ihres Patienten nachzugehen. Es ist Fassbind nicht gelungen, die Krankenakten einzusehen. Ob es im Bundesarchiv noch weitere Akten gibt, die ihm verschlossen blieben, weiss der Biograf nicht.
Vermächtnis auf CDs und auf Youtube
Der Biograf ist auch Joseph Schmidts Archivar. In mehreren Räumen seines Hauses nicht weit von Girenbad hütet Fassbind Memorabilia, wie Kleidungsstücke. Der Ring und die goldene Uhr an ihrer Kette wurden nach Schmidts Tod ausgelöst, aber sie sind verschollen. Fassbind besitzt nur Fotos davon und einen Abdruck des Siegelrings.
Aber zu seinen Schätzen gehören unzählige Konzertmitschnitte, Filme, Schellackplatten, Partituren und Autogrammkarten, die er geduldig sammelt und auf Auktionen kauft. Er liess beinahe ein Dutzend CDs aufnehmen, mit den Arien, den populären und klassischen Liedern sowie den religiösen Gesängen von Joseph Schmidt. Teile des Archivs wurden in der letzten Zeit mit Besucherrekord in Stuttgart, Düsseldorf und München gezeigt. Im Februar 2018 ist Meersburg an der Reihe, und Wien ist in Planung. Nur in der Schweiz wollte bisher niemand etwas davon wissen.
Aber Fassbind, der auch Joseph Schmidts Grab pflegt und den defekten Grabstein auf eigene Kosten restaurieren und die Aufschriften neu vergolden liess, freut sich, dass es so viele Aufnahmen auf Youtube gibt, neuerdings gleich ein Konvolut mit 200 Konzerten. Da kann man auch nach 75 Jahren noch hören, wie sich diese einmalige Stimme emporschwingt wie ein Singvogel, bis hinauf zu dem Stern, der zu früh fiel.