Er kam – wie so viele seiner Schweizer Kolleginnen und Kollegen – vom Dokumentarfilm her, und er kehrte bei seinem letzten Werk zu ihm zurück. Für die Art und Weise, wie der dokumentierende Blick das Filmschaffen hierzulande immer wieder geprägt hat, war Yves Yersin nicht nur typisch, sondern auch stilbildend.
Mit dem Dokumentarfilm „Die letzten Heimposamenter“ (1974) setzte Yersin Massstäbe. Er zeigte nicht nur in ethnographischer und zeitgeschichtlicher Sicht das aussterbende Gewerbe der Seidenband-Weberei im Baselbiet, sondern er rückte die Menschen in den Mittelpunkt, die mit dieser Arbeit ihre bäuerliche Existenz stützten. Yersin war einem für folgende Filmer-Generationen zum Vorbild gewordenen Ethos der sachlichen Akkuratesse und persönlichen Empathie verpflichtet. Nicht umsonst war der Film 1977 an die Documenta 6 eingeladen.
Dass ausgerechnet dieser langsame, bis zum Perfektionismus sorgfältige Dokumentarist mit dem Spielfilm „Les petites fugues“ (1979) eine leichtfüssige Komödie auf die Leinwand brachte, hat bei vielen Beobachtern der Filmszene Verwunderung ausgelöst. Doch schaut man „Die kleinen Fluchten“ genauer an, so entdeckt man auch hier das Werk des genauen Beobachters. Held des Films ist der alte Knecht Pipe (herrlich gespielt von Michel Robin). Der Hof, auf dem er arbeitet, wird ihm zu eng. Erst kauft er sich von der AHV ein Moped, später eine Polaroid-Kamera. Mit dem Töffli meint er nach einigen Stürzen zu fliegen, und mit der Kamera beginnt er zu sehen. Es ist eine Befreiungsgeschichte voller Witz und Wärme, die immer wieder auf den Boden zurückführt. „Les petites fugues“ ist zu einem der erfolgreichsten Schweizer Filme aller Zeiten geworden.
Mit „Tableau noir“ (2013) ist Yersin zum Dokumentarfilm zurückgekehrt – und zwar erneut zu einem Stoff des Entschwindens. Acht Jahre hat er an seinem Film über eine Schule gearbeitet. In Derrière-Pertuis, einem Weiler auf 1100 Meter Höhe im Neuenburger Jura, gab es bis 2008 eine integrierte Gesamtschule. 41 Jahre lang wirkte dort der Lehrer Gilbert Hirschi. Yersin dokumentierte die letzte Zeit dieser Lern- und Lebensgemeinschaft und gibt so Einblick in die Arbeit eines Pädagogen, der mit Leib und Seele für seine Schülerinnen und Schüler da ist.
Was dieser alte Lehrer seinen Kindern gab, hat in anderer Weise auch Yves Yersin dem Film und dessen Liebhabern gegeben. Er war auf seine Weise ebenso „ein Letzter“, wie es die Seidenbandweber im Baselbiet und der Gesamtschul-Lehrer im Neuenburger Jura waren.